Die lange gepflegte Praxis, Lieder zu singen, in Kindergärten, Schulen und Familien, ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus der Mode gekommen. Nur noch gelegentlich, insbesondere in der Advents- und Weihnachtszeit, macht sich bei manchem von uns ein Mangel bemerkbar und wir besinnen uns wieder darauf. An zwei Orten hat sich gemeinsames Singen hingegen bis heute dauerhaft gehalten – in der Kirche und im Fußballstadion. An beiden Orten kennt sich Eugen Eckert bestens aus.
Zwei Jahrzehnte lang war er Studierendenpfarrer der Universität seiner Geburtsstadt Frankfurt und seit 2007 Stadionpfarrer der Commerzbank-Arena, wo die Eintracht Frankfurt ihre Spiele absolviert - eine Aufgabe, die er noch bis zur Europameisterschaft im kommenden Jahr ausüben wird. Außerdem schrieb Eckert in knapp fünf Jahrzehnten etwa 2000 eigene Liedtexte, die in vielen Sammlungen publiziert wurden – zwei sind auch im Evangelischen Gesangbuch (EG) vertreten.
Was ist das Besondere, die Wirkkraft des gemeinsam gesungenen Liedes, was verbindet die Sänger:innen in der Fankurve mit denen im Gottesdienst? Es geht um die Vergewisserung eines Gemeinschaftsgefühls: "Das ‚Wir‘ wird zelebriert", sagt Eckert. "Wir erheben gemeinsam die Stimme – meine Stimme hat Gewicht, und die Stimmen der anderen haben es auch." Im Stadion wird das exzessiv spürbar. Die acht wichtigsten Gesänge, teilweise nach bekannten Melodien, kennen Eintracht-Anhänger quasi im Schlaf. Dazu hüpfen und springen sie in den Reihen, um das Wir-Gefühl zu verstärken. Im Lied "Schwarz-weiß wie Schnee" beschwören sie die Vergangenheit des Vereins ("Wir haben die Eintracht im Endspiel gesehn … mit dem Jürgen Grabowski") und formulieren in der Aussage: "Wir holen den DFB-Pokal und wir werden Deutscher Meister" gleichsam "eine eschatologische Erwartung", wie es der Theologe Eckert ausdrückt.
"Hier wird ein Glaube ausgedrückt", so Eckert. Gleiches geschieht im Gottesdienst, wenn auch weit weniger lautstark. "Dieser Glaube kann sich in Sprachbildern ausdrücken, die wir gar nicht real vor uns sehen – gegen den Augenschein", sagt Eckert und nennt als Beispiel das Adventslied "O Heiland, reiß die Himmel auf". Der Dichter Friedrich Spee war Beichtvater bei Hexenprozessen im 17. Jahrhundert und hat seine Sehnsucht nach Erlösung in visionäre Worte gekleidet.
Zum Singen einladen
Für Luther sei das Singen Ausdruck und Gradmesser des Glaubens, sagt Eugen Eckert und zitiert dessen Vorrede zu einem Gesangbuch von 1545: "Wer solches mit Ernst glaubt, der muss mit Lust und fröhlich davon singen und sagen … wer aber nicht davon singen und sagen will, das ist ein Zeichen, dass er’s nicht glaubt." Häufig bekämen die Menschen in den Gottesdiensten "den Mund nicht mehr auf", beobachtet Eckert. "Doch wenn wir nicht mehr singen, sind wir zum Schweigen verurteilt", lautet sein Resumée.
Wie läßt sich dem entgegenwirken? "Die Menschen kommen, wenn sie zum Singen eingeladen werden", ist Eckert überzeugt. Dies erlebe er etwa bei den Offenen Singen, die er jedes Jahr auf der Insel Spiekeroog anbiete. "Da kommen auch Mal 200 Leute." Und auch im kirchlichen Alltag könne es Erfolge in dieser Richtung geben. Wichtig sei die Authentizität dessen, der zum Singen anleite. "Nötig sind gute Chorleiter:innen, die die Menschen auch mitnehmen können."
Es geht immer auch um Gemeinschaft
Der Weg vom passiven Musikkonsum zurück zum aktiven Mitmachen ist aber gar nicht so furchtbar weit, die Schwellen niedrig, gerade in der Vorweihnachtszeit. "Einfach mitten hinein in den Trubel", rät Eugen Eckert. Auf Weihnachtsmärkten und in den Geschäften schallt es ja allenthalben aus jedem Lautsprecher. Als erster Schritt einfach mal dezent mitsummen. Daheim, wenn man sich wirklich entspannt und unbeobachtet fühlt, mehr riskieren, die Stimme frei lassen. "Auf den meisten Platten und CDs sind die Texte ja mit abgedruckt", sagt Eckert, so dass auch diese Hürde genommen werden kann.
Wer so auf den Geschmack kommt, dem empfiehlt Eckert, die eigenen vier Wände wieder hinter sich zu lassen und sich anderen anzuschließen. In einem Chorprojekt etwa, das ist ein Engagement auf Zeit. Denn beim Singen geht es immer auch um Gemeinschaft: "In einem Chor lerne und erfahre ich vieles, was ich im Leben gut brauchen kann", weiß der Lieder-Experte.
Die Advents- und Weihnachtszeit ist geprägt vom Vertrauten - auch musikalisch. Neue Lieder haben es da besonders schwer, weiß Eckert aus eigener Erfahrung. Das neue geistliche Lied ist zentral in seinem Leben und Arbeiten. Der Frankfurter Kirchentag 1975 gibt entscheidende Impulse, anschließend gründet er die Band "Habakuk", mit der er bis heute über 20 Platten und CDs veröffentlicht hat. Sein Lied "Bewahre und Gott" ist ein Gesangbuch-Hit und wurde auf youtube bis heute über eine Million Mal aufgerufen. "Wenn es einem gelingt, Worte zu formulieren, die Bestand haben, ist das etwas Besonderes."
Eugen Eckert hat natürlich auch Advents- und Weihnachtslieder geschrieben - einige davon sind in dem eben erschienenen Liederbuch "Wurzeln können" vertreten. Für den Weihnachtsgottesdienst, den er dieses Jahr in der Frankfurter Baptistengemeinde hält, hat er aber ebenfalls einen Klassiker gewählt: Luthers "Vom Himmel hoch" zieht sich als roter Faden durch die Feier. "Als Krippenspiel in Liedform", gesungen von Einzelnen, in Gruppen und schließlich von der ganzen Gemeinde, beschreibt es die Entwicklung, die auch der Gesang immer nehmen kann - von der individuellen Vergewisserung hin zum Erlebnis von Gemeinschaft.