Ganz zart erklingen erst die hellen Glocken, bis tiefere Töne hinzukommen und zu einem gewaltigen Konzert ertönen. "Jeder in der Stadt bekommt das mit", ist Küsterin Silke Jenewein von der Braunschweiger St.-Martini-Kirche überzeugt. Nur zweimal im Jahr läuten alle 46 Glocken der Innenstadtkirchen auf einmal. Das nächste Mal erklingt das Braunschweiger Stadtgeläut, das zweitgrößte in Deutschland, zu Beginn des neuen Kirchenjahres an diesem Sonnabend.
Küster und Küsterinnen wie Jenewein sorgen dafür, dass die Glocken wirklich wie geplant am 2. Dezember um 18 Uhr für zehn Minuten geläutet werden. Neben dem Haupteingang der Kirche verschwindet sie hinter einer Tür und zeigt dort, wie sie die Glockenschläge schon vorab programmieren kann. An einem kleinen Gerät an der Wand wischt sie, ähnlich wie bei einem Smartphone, über den Touchscreen und kann so alles genau einstellen. "Gerade bei meinem ersten Einsatz habe ich ganz oft geschaut, ob auch wirklich alles richtig ist", sagt die 50-Jährige lachend.
Ein Funksignal startet dann oben im Turm einen Motor, der mit einem dünnen Zahnriemen die Glocken langsam zum Schwingen bringt. Wenn Jenewein unten in der Kirche eine Art Lichtschalter mit Glockensymbol für eine einzelne Glocke drückt, dauert es oft einen Moment, bis das Schwingen so stark wird, dass es mit dem Klöppel einen Ton erzeugt. "Einen Stromausfall habe ich zum Glück noch nicht erlebt", sagt sie.
Über mehrere Treppenstufen und zuletzt über Holzleitern klettert Jenewein routiniert hinauf zu den neun Glocken der Kirche. Die größte, "der große Adler", wiegt mehr als 5.000 Kilogramm und ist fast 400 Jahre alt. Im Stadtgeläut hat diese Glocke den tiefsten Ton und gehört auch in ganz Deutschland zu den größten und tontiefsten historischen Glocken.
Der Glockensachverständige Sebastian Wamsiedler gerät ins Schwärmen, wenn er über das Braunschweiger Stadtgeläut spricht. Dort seien Instrumente aus acht Jahrhunderten zeitgleich im Originalklang zu hören. Die älteste Glocke in der St.-Magnikirche stammt aus dem Jahr 1335. Nur in Frankfurt am Main gibt es mit vier weiteren Glocken deutschlandweit ein noch größeres, aufeinander abgestimmtes Stadtgeläut.
Im Zweiten Weltkrieg seien viele Glocken zerstört oder für die Waffenproduktion eingeschmolzen worden, erläutert Wamsiedler. "Erst nach Kriegsende hat man begonnen, die Glocken musikalisch aufeinander abzustimmen." Wann das erste Stadtgeläut veranstaltet wurde, sei nicht überliefert. Aber schon zu historischen Besuchen der Herzöge in Braunschweig seien alle Glocken der Stadt - damals noch per Hand - zum Klingen gebracht worden.
Inzwischen versammelten sich am Vorabend des ersten Advents und am Gründonnerstag bereits richtige "Fans" des Stadtgeläuts an beliebten Orten, berichtet der Glockensachverständige. Sie finden sich dann etwa auf einem Parkhausdeck in der Innenstadt ein, denn an höheren Orten können die Töne besser wahrgenommen werden. "Wenn Besucher aber durch die alten Gassen der Stadt gehen, können sie auch in jeder Ecke schöne Klangwolken erleben", betont Wamsiedler. "Das lohnt sich auf jeden Fall."