Herr Kramer, was ist für Sie als Friedensbeauftragter der EKD Frieden? Und wie versuchen Sie diese Definition in Ihrer täglichen Arbeit umzusetzen?
Friedrich Kramer: Mein Verständnis von Frieden orientiert sich am biblischen "Schalom". Das hebräische Wort meint Frieden im Sinne von "heil" oder "ganz sein" und damit mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg. Es geht darum, eine gute Beziehung zu haben: zu anderen Menschen, zu sich und zu Gott – also eine Situation zu schaffen, in der menschliches Zusammenleben in jeglicher Hinsicht so ist, dass es den Menschen miteinander gut geht. Daran schließt auch das Leitbild des "gerechten Friedens" an, das im Konziliaren Prozess von "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" entwickelt wurde und an dem sich auch die EKD-Denkschrift von 2007 orientiert.
Frieden wird hier als Prozess zunehmender Gerechtigkeit und abnehmender Gewalt verstanden. Dabei geht es im Rahmen einer globalen Friedensordnung als Rechtsordnung um den Schutz vor und die Vermeidung von Gewalt, um die Gewährleistung von Freiheit und Menschenrechten, um den Schutz vor sozialer Not und um die Ermöglichung kultureller Vielfalt. In meinem täglichen Friedenshandeln heißt das für mich, das eigene Handeln an diesen vier Kriterien des gerechten Friedens zu prüfen und darum zu beten, dass meine Füße auf dem Weg dieses Friedens gehen.
Wie hilft die Friedensarbeit der Evangelischen Kirche ganz konkret den Betroffenen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine?
Kramer: Schon seit der russischen Annexion der Krim und verstärkt nach dem 24. Februar 2022 engagiert sich eine Vielzahl unserer Organisationen, allen voran Brot für die Welt und die Diakonie Katastrophenhilfe, stark in humanitären Hilfsprojekten in der Ukraine und den umliegenden Ländern, die ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben.
Mitglieder der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) wie zum Beispiel die Kurve Wustrow unterstützen Menschenrechtsorganisationen in der Ukraine bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen und der psychologischen Bearbeitung von Traumata. Ein Anliegen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) ist auch die Beratung und Unterstützung von russischen, belarussischen und ukrainischen Deserteuren und Kriegsdienstentziehern, die nicht in einem völkerrechtswidrigen Krieg kämpfen beziehungsweise nicht auf Verwandte schießen wollen.
Hierzulande organisieren seit Kriegsbeginn unzählige Einzelpersonen, Gruppen und Gemeinden im Raum der EKD Spendenaktionen oder haben Flüchtlinge bei sich aufgenommen, ihnen Wohnräume vermittelt und sie beim Ankommen in unserer Gesellschaft begrüßt und begleitet. Das ist großartig und allen, die das tun, ist von Herzen zu danken!
Mein Wunsch ist, dass wir wieder mehr Friedensgebete und -gottesdienste gemeinsam mit ukrainischen und russischen Menschen feiern, so wie zu Beginn des Krieges. Das sind wichtige Anlässe, um das anhaltende Leid, die Ängste und die Bedürfnisse der Geflüchteten wahrzunehmen, ihnen Raum und Stimme zu geben und unser Mitgefühl zu zeigen; aber auch um Verhärtungen oder allzu nationalistischen Tönen entgegenzuwirken.
Ich lade dazu ein, das jetzt im Rahmen der Ökumenischen FriedensDekade zu tun, die gerade begonnen hat und wertvolle Materialien dafür bietet. Wir können das ins Gebet nehmen, was wir nicht ändern können, und Gott anflehen, dass er es ändert. Wir können darum beten, dass wir wach sind für die Opfer, die brutale Kriegshandlungen erleiden müssen – in der Ukraine, aber auch in Nahost und den über zwanzig weiteren Kriegsgeschehen der Welt. Im Friedensgebet können wir zur Ruhe kommen, denn durch die permanente mediale Wahrnehmung des Krieges und seiner schrecklichen Bilder sind unsere Seelen unruhig und verstört.
Deutschland unterstützt die Ukraine militärisch durch Waffen- und Panzerlieferungen. Ist das Ihrer Sicht nach mit christlichen Werten vereinbar?
Kramer: Diese Frage zerreißt uns, man kann sie nicht eindeutig beantworten. Einerseits fühlen wir uns solidarisch mit den Menschen in der Ukraine und haben das starke Bedürfnis zu helfen, auch mit Waffenlieferungen – im Wissen darum, dass Waffen töten. Andererseits fühlen wir uns dem klaren Gebot Jesu Christi verpflichtet, dem Bösen nicht mit Bösem zu widerstehen, das Schwert wegzustecken und die Feinde zu lieben, ja sogar: diejenigen, die uns verfluchen, zu segnen. Das können wir von außen nicht der Ukraine vorschreiben, haben wir aber für unser Handeln zu beachten.
Maßgeblich für diese ethischen Abwägungen ist für mich die Friedensdenkschrift der EKD von 2007. Sie verfolgt keinen streng pazifistischen Ansatz, betont aber die zivile und gewaltfreie Konfliktbearbeitung als vorrangige Aufgabe in der Nachfolge Christi. Nur als ultima ratio akzeptiert sie die Anwendung von Gewalt, etwa dann, wenn massive Menschenrechtsverletzungen verhindert und die Geltung des Rechts aufrechterhalten werden müssen. Viele sehen genau dies in der Ukraine gegeben. Doch auch dann ist sie nur unter strengen Kriterien wie etwa die gänzliche Ausschöpfung alternativer Maßnahmen, die Angemessenheit im Blick auf klar definierte Ziele oder die Vermeidung von Kollateralschäden erlaubt. Ich sehe es als wesentliche Aufgabe der Kirche, im Blick auf die politischen Entscheidungen über Waffenlieferungen stets neu an die Einhaltung dieser Kriterien zu erinnern – gerade auch in der aktuellen Situation, in der der völkerrechtlich legitime Abwehrkampf der Ukraine in einen zermürbenden Stellungskrieg übergegangen ist, der ohne große Hoffnung auf weitere Landgewinne zahllose Opfer fordert.
Als EKD-Friedensbeauftragter ist es mir wichtig, die unterschiedlichen Positionen in dieser Frage wahrzunehmen, ihnen Raum zu geben und sie in einen breiten, konstruktiven Dialogprozess zu überführen. Das geschieht aktuell in einen umfänglichen Konsultationsprozess der EKD-Friedenswerkstatt, der in eine neue friedensethische Orientierungsschrift des Kammernetzwerks münden soll. Aus Sicht der EKD ist es also keine Bekenntnisfrage, ob man sich für oder gegen Waffenlieferungen ausspricht, sondern eine Frage der vernunftbasierten ethischen Güterabwägung. Deren Beantwortung kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welchen Fokus man wählt und welchem Argument man mehr Gewicht gibt.
Wie sieht die Evangelische Kirche in Deutschland ihre Rolle bei der Förderung des interreligiösen Dialogs und der Verständigung angesichts der Konfliktsituationen im Gaza-Krieg? Welche Schritte werden unternommen, um religiöse Spannungen abzubauen?
Kramer: In der EKD müssen wir gerade jetzt den interreligiösen Dialog intensivieren, in allen seinen Formaten den Antisemitismus zum Thema machen und ihm eine klare Absage erteilen. Wichtig ist es, im Gespräch zu bleiben, gerade auch mit unseren jüdischen Partnern und christlichen Geschwistergemeinden vor Ort. Der israelisch-jüdische Historiker und Professor an der Hebräischen Universität Yuval Noah Harari sagt dazu: "Unsere Seele ist voll von Schmerz, und es bleibt kein Raum mehr, um das Leiden anderer anzuerkennen. Aber Außenstehende, die nicht in einem Meer von Schmerz versinken, müssen sich bemühen, einen Raum des Friedens zu bewahren, damit wir eines Tages, wenn der Schmerz zu heilen beginnt, in diesem Raum leben können." Den Auftrag an Außenstehende, diesen Raum zu bewahren, kann und sollte die EKD mit ihren Einrichtungen vor Ort wahrnehmen.
Jüdinnen und Juden fühlen sich in Deutschland nicht mehr sicher. Wie ermutigen Sie als Friedensbeauftragter die Menschen, sich aktiv für Frieden und Versöhnung einzusetzen? Welche praktischen Möglichkeiten gibt es für Gemeinden und Einzelpersonen, sich zu engagieren?
Kramer: Das Ausmaß des Judenhasses, der sich öffentlich auf unseren Straßen zeigt, ist zutiefst erschreckend und unerträglich. Neben dem alten, latenten Judenhass wird ein neuer, auf Israel bezogener, offenkundig – allen Formen müssen wir entschieden entgegentreten, als Kirche nach innen und außen sowie als Individuen in unserem familiären und beruflichen Umfeld.
Das Friedensgebet ist das Wichtigste und Stärkste, was wir im Moment tun können
Viele Christinnen und Christen haben an Solidaritätskundgebungen mit Israel teilgenommen. Das ist wichtig und gilt es zu intensivieren im öffentlichen wie privaten Raum, um den jüdischen Menschen in Deutschland glaubhaft zu machen, dass sie sich auf uns verlassen können. Es darf keine hohle Formel bleiben, wenn wir sagen, dass Juden in Deutschland nie wieder verfolgt werden dürfen. Das bedeutet konkret zum Beispiel auch, dieses Thema in der Migrationsarbeit anzusprechen. Dabei dürfen wir nicht in einen Kultur- oder Religionskampf kommen, sondern müssen Wege zum Gespräch mit allen suchen und auch der Trauer um Opfer der Zivilbevölkerung in Gaza Raum geben. Das geht nur in differenzierten Debatten oder gemeinsamen Friedensgebeten. Auch braucht es eine selbstkritische Buße-Haltung; ich muss mich etwa selbst befragen: Wie schnell und warum spreche ich auf Israelkritik an?
Und noch einmal: In unserer Verzagtheit geben wir viel zu schnell das Beten auf. Genau das ist aber wichtig, denn wir selbst vermögen es nicht, in Israel oder der Ukraine Frieden zu machen. Wir haben oft nicht mal eine Idee, wie es gehen könnte. Dann bete ich: "Gott, das übersteigt völlig meine Vernunft, deshalb bitte ich dich um deinen Frieden." Das Friedensgebet ist das Wichtigste und Stärkste, was wir im Moment tun können. Das sagen uns auch unsere nahöstlichen Geschwister immer wieder. Wer für den Frieden und auch für die Feinde betet sowie um Wege, die zum Frieden führen, der bewegt sich mit Gott in einer Dimension, die tiefen inneren Frieden verheißt.