Die Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff lobt die evangelische Kirche für ihre Debattenkultur in der Frage um die richtige Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine. "Manche mögen bedauern, dass die Kirche in dieser Hinsicht nicht eindeutig ist, dass sie so plurale, in Teilen sogar gegensätzliche Positionen vertritt", sagte die Leiterin des Peace Research Institute Frankfurt - Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung laut Redemanuskript bei der Zentralen Reformationsfeier der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Wiesbaden.
Doch sie sehe dies als Teil der kirchlichen Rolle in Kriegszeiten, sagte Deitelhoff: "Sie soll auch Spiegel der Gesellschaft sein, ihrer Ängste und Sorgen." Jenseits aller materiellen Realitäten und Ressourcenfragen stünden Gewissheiten, politische Wahrheiten und Selbstverständnisse zur Disposition. Es gehe um die Frage, ob eine unbedingte Kriegsvermeidung aufrechtzuerhalten sei angesichts eines Gegners, der keine Grenze in seinem Expansionsdrang erkennen lasse und systematisch Kriegsverbrechen begehe, sagte die Politologin.
Rolle der Kirche in Konflikten bleibt wichtig
Auch im Konflikt in Israel sei die gesellschaftliche Rolle der Kirchen möglicherweise mehr gefragt als je zuvor, sagte die Politologin weiter. Der "moralische Rigorismus, der bereits die öffentlichen Debatten zum Russischen Angriffskrieg immer wieder durchzogen hat, zeigt sich im Gaza-Krieg umso erbarmungsloser", so die Konfliktforscherin. Er unterscheide nur zwischen "richtig und falsch". Zwischentöne blieben fremd. Dieser moralische Rigorismus gedeihe vor allem in Krisenzeiten, in denen Unsicherheiten zunähmen und Menschen dadurch immer weniger in der Lage seien, mit Ungewissheit umzugehen.
Deitelhoff: "Die Kirche muss darum auch noch mehr als je zuvor zeigen, dass es anders geht und die Gesprächsräume bereitstellen, in denen Menschen das geschützt erleben können, in denen sie ihre Unsicherheiten thematisieren können, ohne angegangen zu werden. Kirche muss helfen zu halten, wo es auseinandertreibt." Schließlich habe die Kirche auch noch die Rolle, zu sorgen und zu trösten: "In dieser Situation braucht es die Kirchen, um zuzuhören und Trost zu spenden. Die Kirche tut das."
"Kirche muss helfen zu halten, wo es auseinandertreibt"
Nicht nur die Kriege in der Ukraine und in Gaza selbst seien besorgniserregend, sondern auch deren Auswirkungen auf krisengestresste Gesellschaften, erklärte Deitelhoff: "Wenn wir nicht mehr in der Lage sind, einander zuzuhören, Meinungsunterschiede auszuhalten und trotzdem aneinander festzuhalten, geht nicht nur der äußere, sondern auch der innere Frieden in unserer Gesellschaft verloren."
Auch der hessen-nassauische Kirchenpräsident stellte das Thema Krieg und Frieden in den Mittelpunkt seiner Predigt. "Wir feiern den Reformationstag 2023 inmitten einer zerrissenen, aufgewühlten und friedlosen Welt", erklärte er. Auch angesichts der schrecklichen Nachrichten aus Israel bleibe das Evangelium "eine Kraft gegen die Verzweiflung" und eine "Kraft zum Leben".
Am Reformationstag erinnern Protestantinnen und Protestanten in aller Welt an den Beginn der Reformation durch die Veröffentlichung der 95 Thesen von Martin Luther am 31. Oktober 1517. Mit seiner Kritik an der Kirche seiner Zeit stieß Luther Veränderungen an, die später zum Entstehen der evangelischen Kirche führten. Die hessen-nassauische Landeskirche lädt zu ihrer zentralen Reformationsfeier traditionell eine prominente Persönlichkeit als Gastredner ein.