Rohrdorf ist ein idyllisch gelegenes Örtchen im Norden des Schwarzwaldes. Von den rund 2.000 Einwohnern sind knapp 900 evangelisch, etwa ebenso viele katholisch - und sie verbindet seit Jahrhunderten ein ganz besonderes Miteinander. Sie teilen sich eine Kirche, im wahrsten Sinne des Wortes: Eine massive Trennwand unterteilt die Johanneskirche in einen evangelischen und einen katholischen Bereich.
Auf einem Holzschild vor der Kirche liest der Besucher: "Zugang zur katholischen Kirche an der rechten Seite des Kirchengebäudes". Der Haupteingang zur Rohrdorfer Kirche, deren Geschichte bis ins Jahr 1311 zurückreicht, ist nämlich seit Mitte des 18. Jahrhunderts den Protestanten vorbehalten.
Die Johanneskirche in Rohrdorf ist eine sogenannte Simultankirche - eine Kirche also, die von beiden Konfessionen genutzt wird. Infolge der Reformation wurde in dem kleinen Ort Mitte des 16. Jahrhunderts vereinbart, dass Katholiken und Protestanten gleichermaßen ihre Gottesdienste in der Kirche feiern dürfen. Da es aber immer wieder zu Streitigkeiten um Zuständigkeiten und Gottesdienstzeiten kam, bestimmte der württembergische Herzog Carl Eugen 1738, dass entweder eine zweite Kirche gebaut oder die bestehende umgebaut und aufgeteilt wird. Aus Kostengründen setzte sich der Umbau durch.
Der Chorraum der bestehenden Kirche wurde mit einer massiven Mauer vom Kirchenschiff abgetrennt und den katholischen Gläubigen überlassen. Den evangelischen Teil verlängerte man durch einen Anbau. Gemeinsam mit dem direkt an die Kirche angrenzenden Rathaus - dem einstigen Sitz der örtlichen Niederlassung des Johanniterordens - bilden die Gebäude ein eindrückliches Ensemble. Kurios: Der vorgeschriebene Fluchtweg aus dem evangelischen Teil der Kirche führt über eine Tür von der Empore direkt in den Festsaal des Rathauses und von dort ins Freie. "Aber wir mussten ihn - Gott sei Dank - noch nie nutzen", sagt Pfarrer Markus Eißler.
Die Rohrdorfer Kirche ist eine von deutschlandweit 64 Simultankirchen. Die meisten gibt es in Rheinland-Pfalz, gefolgt von Bayern. Viele Simultankirchen entstanden nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert. Damals waren zahlreiche Gotteshäuser zerstört, und es fehlte an Geld, sie wieder aufzubauen. Kurzerhand verfügten einige Landesherren, dass die vorhandenen Kirchen von beiden Konfessionen genutzt werden sollten.
Die älteste und zugleich größte Simultankirche Deutschlands findet sich im heutigen Freistaat Sachsen - der Dom St. Petri in Bautzen in der Oberlausitz. Seit genau 499 Jahren feiern sowohl Protestanten als auch Katholiken dort Gottesdienst unter einem Dach. Nicht von Anbeginn an funktionierte das so friedlich und reibungslos wie heute. Weil es immer wieder zu Streitigkeiten kam, etwa wegen der Gottesdienstzeiten oder des Glockengeläuts, verhandelten der Bautzener Stadtrat und das Domstift 1543 einen Vertrag, der die Nutzung des Doms durch beide Konfessionen regelte. Seitdem gehören zwei Drittel der Kirche den Protestanten, ein Drittel den Katholiken.
Im Streit Taufbecken mit Schloss versehen
Anderswo konnte man sich nicht so einfach einigen: In der bis 1957 als Simultankirche genutzten Stadtpfarrkirche St. Marien im oberpfälzischen Sulzbach versiegelte der katholische Geistliche Anfang des 19. Jahrhunderts das Taufbecken mit einem Schloss. Auf diese Weise sollte den Protestanten die Taufe verwehrt werden. Kurzerhand brachten auch diese ein Schloss an, sodass in der Kirche der Überlieferung zufolge über 100 Jahre lang keine Taufen stattfinden konnten.
In Rohrdorf kam es zu derartigen Kuriositäten nie - vielleicht auch, weil es alles in doppelter Ausführung da ist: zwei Eingänge, zwei Taufsteine, zwei Orgeln, zwei Altäre. Allein den Kirchturm samt Geläut gibt es nur einmal. Er erhebt sich genau mittig über dem katholischen und dem protestantischen Teil der Kirche. Der Zugang erfolgt - ganz neutral - über das Rathaus. Protestanten, Katholiken und Ortsgemeinde teilen sich den Turm samt den vier Glocken. "Man hört ja nicht, ob es evangelisch oder katholisch läutet", scherzt Pfarrer Eißler.
Und obwohl die Gottesdienste sonntags in der Regel nacheinander stattfinden und auch sonst alles strikt getrennt wird, wie beispielsweise Strom- oder Heizkosten, könnten beide Konfessionen auch zur gleichen Zeit Gott loben - der massiven Trennmauer sei Dank. "Die Orgeln stehen Wand an Wand. Und trotzdem hört man von der anderen Seite so gut wie nichts", sagt Kirchenpflegerin Marita Pross von der katholischen Gemeinde.
Ist die gemeinsame Nutzung von Kirchengebäuden angesichts zurückgehender Kirchenmitgliederzahlen und schwindender Finanzen ein Modell für die Kirche von morgen? Eißler ist skeptisch: "Es hat Vorteile, wenn jede Konfession ihre Räumlichkeiten hat und man nicht alles absprechen muss", sagt er. Schließlich gehe es nicht nur um organisatorische, sondern auch um theologische Fragen. Aber auch er ist pragmatisch. Wenn sich Inflation und Energiepreise weiter so entwickelten, müsse man sich schon fragen, ob man nicht nur einen Teil der Kirche heize und dort Gottesdienst feiere.
Übertragen auf andere Kirchengebäude könne das möglicherweise bedeuten, dass Katholiken künftig auch in evangelischen Kirchen Gottesdienst feierten und umgekehrt: "Am Ende könnten uns fehlende Finanzen zu mehr gelebter Ökumene zwingen." In diesem Jahr bleibt es allerdings in Rohrdorf dabei: Der Gottesdienst zum Reformationstag wird im evangelischen Teil der Simultankirche stattfinden, der zu Allerheiligen im katholischen. Ordnung muss sein.