Nahaufnahme tröstender Hände
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Seelsorge spielt für den Theologen Thomas Wild eine große Rolle in der Bewältigung aktueller Krisen.
Seelsorge-Experte im Gespräch
Wie kommen wir durch die Permakrise?
Der Theologe Thomas Wild ist Experte auf dem Gebiet der Seelsorge, hat Bücher zu dem Thema geschrieben und lehrt an der Uni Bern. evangelisch.de hat mit dem Schweizer Wissenschaftler gesprochen und gefragt: Was kann Seelsorge in Zeiten der "Permakrise" bewirken?

evangelisch.de: Wie beeinflussen die Konflikte in Israel und der Ukraine die seelische Gesundheit der Menschen in diesen Regionen, aber auch in Deutschland oder in der Schweiz?

Thomas Wild: Welche Folgen Krieg und Terror für die seelische Gesundheit Direktbetroffener haben, kann man aus seelsorglicher Sicht nur erahnen. Es ist schwer vorstellbar, dass Menschen nach einem Kriegstrauma überhaupt wieder ins Leben zurückfinden. Viele stehen unter Schock und erfahren Phasen totaler Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Die Willkür, mit der Geschehnisse in das Leben von Individuen oder Gruppen einbrechen, bringt Welt- und Selbstbild durcheinander. Was mich immer wieder beeindruckt ist, wie Menschen trotz alledem versuchen, Ordnung ins Chaos zu bringen.

Welche Rolle kann Seelsorge bei der Bewältigung von Traumata und emotionalen Belastungen in Kriegsgebieten spielen? Welche spezifischen seelsorgerischen Ansätze sind in solchen Krisensituationen besonders wirksam?

Wild: Wir unterscheiden zwischen Kriseninterventionen und Krisenbegleitungen. Interventionen in Akutsituationen fordern notfallseelsorgliches Knowhow, das in spezifischen Ausbildungen erlernt und eingeübt wird. Dabei geht es primär darum, Menschen nicht alleine zu lassen, sie zu stabilisieren und in die Selbstwirksamkeit zurückzuführen. Fragen danach, was sie erlebt haben, können helfen, das Erlittene in Worte zu fassen und sich den Irrsinn vom Leib zu reden. Seelsorge in akuten Krisensituationen geht aber weit über Worte hinaus und hat oft einen diakonischen Charakter – etwa, primäre Bedürfnisse zu stillen, Kontakte herzustellen und Orte der Sicherheit zu finden.

In Krisenbegleitungen geht es darum, den Verletzungen und der Verletzlichkeit Raum zu geben. Krisen legen unsere Verwundbarkeit offen, zerstören Gewissheiten und konfrontieren uns mit unseren regressiven und progressiven Anteilen. Wichtig scheint mir, dass in einer Seelsorgesituation die ganze Palette von Empfindungen und Reaktionen, von Verzweiflung bis zur Wut, gezeigt werden darf. In uns wohnen sowohl das schutzsuchende Ich des Kindes als auch das aktive, "er-wachsende" Ich, das aufbricht und nach neu zu gestaltenden Räumen sucht. Beides verdient, gesehen zu werden.

"Krisen legen unsere Verwundbarkeit offen, zerstören Gewissheiten und konfrontieren uns mit unseren regressiven und progressiven Anteilen"

Viele Menschen in Deutschland sind sekundär betroffen, da sie enge Verbindungen zu den Konfliktregionen haben, sei es durch Familie, Freunde oder kulturelle Bindungen. Welche Unterstützung bieten Seelsorger hierzulande diesen Personen, und wie können sie dazu beitragen, deren emotionalen Bedürfnissen gerecht zu werden und Resilienz aufzubauen?

Wild: Sobald wir persönliche Kontakte zu Menschen in Krisengebieten haben, verändert sich die Betroffenheit schlagartig. Wir bangen, hadern und hoffen wie vielleicht nie zuvor. Die existentielle Verbindung und die persönlichen Beziehungen zu Menschen aus anderen Kulturkreisen machen uns aber auch schmerzlich bewusst, wie privilegiert und wie hilflos wir sind. Seelsorge kann deshalb auch heißen, konkrete Hilfsprojekte zu lancieren oder zu fördern, bei denen Menschen sich als nützlich und solidarisch erfahren. Eine der Herausforderungen ist, dass seelsorgliche Praxis im Krisenfall mit einem oftmals äußerst fragilen System von Menschen zu tun hat, die allesamt ebenfalls auf Trost, Annahme und Zuneigung angewiesen sind. Zudem sind wir alle in gewisser Weise "seelisch" anfällig aufgrund von individuellen Dispositionen, aber auch wegen der globalen (Klima-) Krise. Während die einen in einen Aktivismus fliehen, ziehen sich andere zurück und schotten sich ab. Seelsorge hat immer einen emanzipatorischen Charakter mit dem Ziel Menschen zu ermächtigen, sich gut zu schützen und abzugrenzen, aber auch sich zu vernetzen und sich zu engagieren.

Inwiefern können interreligiöse und interkulturelle Unterschiede in Regionen wie Israel und der Ukraine die Arbeit von Seelsorgern beeinflussen? Wie fördert Seelsorge Verständnis und Versöhnung in konfliktgeprägten Umgebungen?

Wild: Was und wie seelsorgliche Maßnahmen in den betroffenen Gebieten angeboten werden und auch Zugang erhalten, weiß ich nicht. Grundsätzlich gilt es, die eigene Position in einer respektvollen und nicht-totalitären Weise zu kommunizieren. Das heißt, auf Vor- und Pauschalurteile zu verzichten und auf sachliche, beispielsweise gesicherte historische Informationen zurückzugreifen.

Gerade bezüglich des Konfliktes zwischen Israel und Palästina greifen viele Leute schnell zu absoluten Aussagen. Seelsorgende können zwar nicht aus eigener Kraft Versöhnung stiften oder gegenüber Allen und Allem Verständnis zeigen. Gleichwohl ist unsere Aufgabe die der Mediation, also der Vermittlung angesichts von Würde und Gottebenbildlichkeit aller Menschen. 

Wie gehen Seelsorger mit ihrer eigenen Belastung und emotionalen Erschöpfung um, wenn sie Menschen in Kriegsgebieten begleiten? Welche Selbstfürsorge-Strategien sind in solchen stressigen Umgebungen wichtig?

Seelsorge ist hochsensible Beziehungsgestaltung, die die Fähigkeit zu Selbstreflexion voraussetzt. Dabei wird oft übersehen, dass Selbstfürsorge nicht nur eine kognitive Angelegenheit ist. Auch Unbewusstes (Gefühle), Vorbewusstes (Ahnung, Intuition) und Imaginatives (z.B. Träume) gehören in eine Supervision. Seelsorgende müssen Trauer zulassen können, Risiko- und Resilienzfaktoren kennen und lernen, ihre eigenen Grenzen und Gefühle zu respektieren. In der Notfallseelsorge bewährt haben sich zudem interkollegiale Entlastungsgespräche, die zeitnah an Einsätze stattfinden und relativ kurz dauern. Bei sehr belastenden Einsätzen braucht es darüber hinaus sog.

"Defusings", die die persönliche Situation zu entschärfen und den Stress abbauen helfen. Auch Nachbesprechungen ("Debriefings") sind oft nötig, um wieder gestärkt arbeiten zu können. Das "Doing loss" (Andreas Reckwitz), die Aufarbeitung von Verlusterfahrungen, bedarf in der Regel psychologischer oder therapeutischer Begleitung. Allgemein gilt hier die Umkehrung des bekannten Sprichwortes: Reden ist Gold!

Welche langfristigen Auswirkungen hat die Seelsorge in Konfliktsituationen auf die betroffenen Gemeinschaften und Einzelpersonen? Können Sie Beispiele für positive Veränderungen oder Heilungsgeschichten aus Ihrer eigenen Erfahrung teilen?

Wild: Wer sich nicht entmutigen lassen will, setzt ein Zeichen. Indem wir dem Absurden unserer Welt Hoffnungsnarrative entgegenstellen, indem wir miteinander die Ereignisse besprechen und einander an unserer Betroffenheit teilhaben lassen, lösen wir uns aus dem Zustand der ersten emotionalen Erstarrung. In der Solidarität mit den Opfern und in der Trauer über die Vorstellung, dass die Welt so schrecklich sein kann, dass dies gerade Dinge der Unvorstellbarkeit sind, entsteht eine Selbstvergewisserung. Ich werde mir der Verbindung zu mir, zum Mitmenschen und zu dieser Welt bewusst, wenn auch auf schmerzliche Weise. Das Mitgefühl mit den Direktbetroffenen und den Leidenden ist eine zutiefst menschliche Reaktionsweise. Unsere Gesellschaft wäre ohne die Prinzipien der Solidarität nicht denkbar. Bereits die Corona-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass seelsorgliche Praxis in aktuellen Krisen eine wichtige Orientierungsmarke darstellt. Die seelsorgliche Präsenz ist in vielfältiger Gestalt notwendig, weil es überall an supportiven Angeboten fehlt. Seelsorgliche Unterstützung ist in Krisensituationen eine Ressource, weil sie niederschwellig, breitgefächert und großzügig Begleitung anbietet.

Vielen Dank für das Gespräch!