Angriffe auf Israel
© Francisco Seco/AP/dpa
Trauernde versammeln sich um das Grab einer Frau, die auf einem Musikfestival getötet worden war.
Krieg in Nahost
"Israel wird nicht mehr dasselbe sein"
Israel steht unter Schock. evangelisch.de Autor Thomas Klatt hat jüdische Stimmen aus Israel und Deutschland nach der Terror-Attacke der Hamas gesammelt und berichtet, wie die Israelis den Angriff erleben und was sie nun hoffen.

"Wir sind um 6:30 Uhr vom Luftalarm aufgewacht und waren irritiert. Normalerweise, wenn wir in Tel Aviv Alarm haben, kündigt sich das meistens schon an. Erst fängt es im Gaza-Umland an. Aber es fängt nicht mit Tel Aviv an", erzählt die deutsch-israelische Journalistin Andrea Livnat im Zoom-Interview. Seit vielen Jahren betreut sie das deutschsprachige Online-Magazin haGalil, das ihr Vater einst in Deutschland aufgebaut hatte, um in dem damals noch jungen Medium Internet Hass und Hetze gegen Juden etwas entgegenzusetzen. haGalil versucht seitdem, solide Informationen über das Judentum zu verbreiten. Seit langem wohnt Andrea Livnat schon in Israel und hat dort eine Familie gegründet. Der nicht nur virtuelle Hass auf Juden ist nun zu einem mehr als Tausendfachem Mord geworden.

"Wir sind hochgeschreckt und haben unsere drei Kinder aus den Betten gezogen, sind in den Schutzraum gerannt, haben die Telefone angemacht und dann schon gesehen. Südlich von Tel Aviv war überall Alarm. Es waren Hunderte Orte, die Alarm hatten", beschreibt die Mutter weiter.

Der Schock sitzt nicht nur bei ihr tief. Israel ist die seit Jahrzehnten sichere Heimat für alle Juden weltweit. Und jetzt?

"Da ist ein großer Unglauben. Wie kann das sein? Wo ist die Armee? Es ist auch selten, dass man in Israel so gar nicht weiß, was los ist. Wir sind das gewohnt, wenn ein Anschlag ist, dass es immer sofort eine Berichterstattung dazu gibt und man mehr oder weniger sofort weiß, was passiert ist. Also innerhalb weniger Minuten. Die Unsicherheit hält bis heute an", sagt Andrea Livnat weiter.

Dabei hält sie ihre Situation in Tel Aviv noch für komfortabel. Immerhin hätten sie 90 Sekunden Zeit, um bei Alarm in den Schutzraum zu flüchten, sagt sie. Nun sei das ganze Land im Schock. Anders als sonst seien die Straßen, Cafés und Partymeilen von Tel Aviv verwaist. Jetzt gehe es um Geschlossenheit und den gemeinsamen Kampf. Die Schuldfrage und die politische Aufarbeitung stünden im Moment an zweiter Stelle. Der Impuls der Rache sei natürlich auch da. Aber alle Israelis wüssten, dass es wenig sinnvoll sei, Gaza nun einfach dem Erdboden gleich zu machen.

Es braucht internationale Hilfe

"Was machen wir dann damit? Das ist ein Problem, das Israel nicht allein wird lösen können. Es braucht definitiv internationale Hilfe. Es leben in Gaza nicht nur Hamas-Fanatiker. Wer soll die regieren? Wer soll die versorgen? Das ist jetzt nichts, was sich Israel ans Bein binden will", sagt Livnat.

Klar sei auf jeden Fall, dass es nun nicht nur in Israel eine neue Zeitrechnung gebe. Jetzt nach dem größten Pogrom seit dem Holocaust, sagt Andrea Livnat "Man kann ohne Probleme den 7. Oktober mit 9/11 vergleichen, vom Ausmaß, auch vom Gefühl der Ohnmacht, vom Gefühl der Hilflosigkeit und der Angriffsfläche her, die man geboten hat. Diese Unvorbereitetheit. Israel nach dem 7. Oktober wird nicht wieder dasselbe sein wie vor dem 7. Oktober, das ist klar."

Auch bei den jüdischen Gesprächspartnern in Berlin sitzt der Schock und die Trauer tief. Nur mühsam finden alle Interview-Partner Worte und ringen um Fassung. "Es ist schwer zusammenzufassen: Bedrückt. Wir waren vor kurzem erst in Israel, betroffen sind auch indirekt Freunde von uns. Mir fehlen die Worte", sagt der Musiker Max Doehlemann vom jüdischen Theaterschiff MS Goldberg.

Wird nun der Iran ernst machen?

"Das ist ein Zustand der Hilflosigkeit, der Lähmung, der Schockstarre, mit Wut, mit Trauer und dazu kommt die Sorge, wie es jetzt weitergehen wird. Wird der Iran ernst machen mit einem Angriff?", zeigt sich die jüdische Publizistin Sharon Adler vom Online-Magazin AVIVA-Berlin.de besorgt. 

Anna Staroselski, ehemalige Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland ist nun Sprecherin des Vereins "WerteInitiative - deutsch-jüdische Positionen", sagt: "So schrecklich war es in Israel seit Staatsgründung noch nie. Gleichzeitig habe ich Freunde in Israel, die mir erzählen: Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt irgendwo anders zu sein. Sie möchten jetzt gerade in Israel sein, sie möchten das Land mit verteidigen gegen diesen brutalen Terror."

Schrecken, Verzweiflung, Trauer, die Entschlossenheit zum Kampf. Nun aber sei es auch endgültig Zeit für eine Zäsur. Die Europäische Union finanziert die palästinensische Autonomiebehörde seit Jahren mit hohen Summen. Und seit Jahren gibt es die Kritik, dass mit diesem Geld antijüdische Propaganda in palästinensischen Schulbüchern finanziert werde. Wer als Terrorist gegen Israel kämpft, werde mit großzügigen Märtyrerrenten belohnt. Der Kuschelkurs mit den Palästinensern müsse nun aber endlich beendet werden.

"Es ist unglaublich bedauerlich, dass dieser schrecklichste Terrorangriff, den Israel jemals erlebt hat, scheinbar notwendig war, damit Deutschland und Europa aufwacht und die Palästinenserhilfen auf den Prüfstand stellt. Es gehört auf jeden Fall eine Lösung gefunden, wie diese Gelder künftig nicht mehr für Antisemitismus und Judenhass und vor allem für Terror gegen Juden missbraucht werden", sagt Anna Staroselski.

"Warnungen nicht ernst genommen"

Bei Sharon Adler kommt so etwas wie Verbitterung hoch. Deutsche Politiker hätten allzu lange die Kritik und die Warnungen von Experten und aus der jüdischen Community nicht ernst genommen: "Ich kann unsere Außenministerin überhaupt nicht verstehen. Man kann sich nicht in Yad Vashem hinstellen und Krokodilstränen vergießen angesichts der ermordeten jüdischen Kinder durch die Nazischergen und auf der anderen Seite jetzt die Zahlungen an das Terrorregime in Gaza nicht einstellen wollen mit dem Vermerk, es sei doch eben die Zivilgesellschaft, die dort weiterhin unterstützt werden müsste. Auch sie kann nicht so naiv sein zu glauben, dass diese Gelder, die seit Jahren dorthin fließen, nicht wieder in den Taschen der Terroristen landen." 

Und nicht nur die Politik, sondern auch Polizei und Justiz müssten nun endgültig gegen den antijüdischen Hass durchgreifen, wie er jetzt in Duisburg und Berlin-Neukölln öffentlich gezeigt wurde, sagt Anna Staroselski: "Es muss ganz klar sein, dass auf deutschen Straßen Hetze gegen Juden nicht stattfinden darf. Dass Terrorverherrlichung nicht stattfinden darf, während in Israel auf brutalste Art und Weise Menschen massenhaft ermordet werden, entführt werden, misshandelt werden. Es gibt die Terrorvorfeldorganisation Samidoun, die dazu aufruft, auf der Straße den so genannten palästinensischen Widerstand zu feiern. Und eine solche Organisation gehört verboten."

Doch wie geht es nun weiter? Die jüdischen Literaturtage Berlin wurden jetzt angesichts des Überfalls der Hamas auf Israel abgesagt. Das jüdische Theaterschiff MS Goldberg liegt derzeit in Eisenhüttenstadt. Trotz oder gerade wegen des Entsetzens will man aber dort unbedingt weiter auftreten. 

"Wir machen weiter"

"Wir sind unbeschreiblich traurig, aber natürlich machen wir weiter. Es geht ja nicht nur um Belustigung. Es geht ja auch um Aufklärung und um Kampf gegen Antisemitismus", sagt Musiker und Mitinitiator des Theaterschiffes Max Doehlemann.

Nun müssten die Täter, die Hamas und ihre Unterstützer klar benannt und an den Pranger gestellt werden. Vor allem aber bedürfe es gerade jetzt der Hilfe für die Opfer, sagt Anna Staroselski: "Es gibt zahlreiche Möglichkeiten Geld zu spenden an die Terroropfer und solidarisch zu bleiben und ganz klar zu sagen, dass es einen Aggressor gibt, nämlich die Hamas-Terroristen und dass Israel absolut das Recht hat, sich dagegen zu verteidigen."

Vor allem müssten sich die Betroffenen nun bemühen, dass ihre Trauer und Wut nicht in Hass auf die Täter umschlägt. Shlomit Tripp, Künstlerische Leiterin beim jüdischen und interkulturellen Puppentheater bubales, ist immer noch von ihren Gefühlen übermannt. Ein Interview mag sie nicht geben. Schriftlich aber teilt sie mit, dass sie im Gottesdienst etwas sehr Kluges gehört habe:

"Konzentriert euch nicht auf die negative Energie und den Hass! Schaut keine Videos in den sozialen Medien an!  Sie verstoßen gegen das jüdische Gesetz der Seelenruhe und machen eure Seelen krank! Israel braucht euch jetzt als gesunde Menschen! Konzentriert euch auf die positiven Seiten: Lasst es zu, in dieser dunklen Stunde, Freude im Herzen zu spüren. Das macht uns stark!"