Foto: Thomas Breitkreuz
Angekommen. Das Kind und der Vater an dem Ort, wo das Wasser salzig ist.
Elternzeit. 1394 km Deutschland
Ein Fahrrad, ein Anhänger, 1394 km Deutschland. Ein Mann und ein Kind unterwegs an den Ort, wo das Salzwasser ist. Von der Schwäbischen Alb an die Nordsee.
22.10.2012
Lutz Lonnemann

Die Morgenluft ist kühl. Thomas Breitkreuz legt Johannes, 12 Monate alt, in den schwebenden Sitz seines komfortablen Anhängers, gurtet ihn sicher und kontrolliert das Gepäck. Er verabschiedet sich von seiner Frau, sie küsst ihr Kind ein letztes Mal, er setzt sich aufs Fahrrad – und ist dann mal weg. Weg durch die Schwäbische Alb, vom Lautertal ins Lonetal, durchs Brenztal ins Kochertal nach Aalen-Unterkochen: erste Station nach 86 von 1394 Kilometern auf dem langen Weg nach Norden.

Thomas Breitkreuz ist 31 Jahre alt und Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde in Wippingen und Lautern im Alb-Donau-Kreis, verheiratet, ein Kind – er ist gerade in Elternzeit. Allein, "ein Stück weit abzuschalten und ganz für mein Kind dazusein", das gehe "bei Pfarrers nur, wenn man unterwegs und eben weg ist". Darum hat er seine Sachen gepackt, sein Kind, sein Rad, den Anhänger, und ist davongefahren.

Elternzeit ist Reisezeit

Die Kirchengemeinde hat ihren Pfarrer gerne ziehen lassen, ist sie denn eher froh darüber, dass nach langer Vakanz endlich wieder einer fest für sie da ist, der ihnen von der Kanzel spricht, ihre Kinder tauft und das Abendmahl spendet. Und wenn der Pfarrer selber Nachwuchs hat, liegt es in der Natur der Sache. Die Elternzeit, "die hätten sie auch gern genommen, damals", sagen manche in der Gemeinde hinter der Hand.

Das Vater-Sohn-Gespann beim Start zur letzten Etappe von Hamburg zur Insel Föhr. Foto: Thomas Breitkreuz

Pfarrer Breitkreuz liegt voll im Trend, und doch ist er eine Seltenheit. Er fährt mit dem Rad, wo andere fliegen; er fährt durchs eigene Land, wo andere die Ferne suchen; er lässt seine Frau daheim, wo andere gemeinsam reisen. Elternzeit sei Urlaubszeit, behauptet die Reisebranche und lockt ein wachsendes Klientel mit allerlei Tipps und Hinweisen auf Ökoläden, Drogeriemärkte oder Eltern-Entspannungpaketen in alle Winkel der Erde. Spiegel Online titelte wohl deshalb bald nach Einführung des neuen Elterngeldes (2007) ironisch: "Elternzeit ist Reisezeit. Traumtrip, gesponsert vom Staat". Die Zeit Online gibt sich affirmativer und spricht die Jungeltern an als "Globetrotter" mit einem speziellen Blog befüllt von selbst reisenden Eltern-Autoren.

Für Thomas Breitkreuz und sein Kind ist es eine Tour von 18 Tagen in vier Etappen ohne Frau und Mama. Zeit also, sich zu zeigen von allen Seiten in besonderer Lage und Umgebung. Zur Belohnung gönnen sie sich danach eine Woche lang den Blick aufs Meer von Wyk auf der Nordseeinsel Föhr – mit Sandburgen bauen, Spaziergehen und der gemütlichen Langsamkeit eines hellen Strandurlaubs unter Frieslands Sonne – mit der ganzen Familie.

Zapfenstreich ist gegen neun

Die Tour ist eine Deutschlandreise durch sechs Bundesländer, vier Sprachzonen und acht Dialekte. Eine Art Fortbildung also durch Vaters Land. Von der manchmal kargen steilen Kalkstein-Alb ins oft windige ebene Land der Nordfriesen. Topographisch gesehen von oben nach unten, geographisch umgekehrt von unten nach oben. Grenzfahrten. Gegensätze. Und manchmal auch Spielplätze. Die letzte Brezel werden sie in Kassel am Bahnhof finden.

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Johannes ist beim Fahren die meiste Zeit hellwach - zwischen einem Schläfchen am Morgen und einem Nickerchen am Nachmittag. Die Reifen surren auf dem Asphalt, die Schotterpisten rütteln das Gespann. Wind und Fahrtwind. Die Gerüche von Wiesen, Wald und Feldern. Flüsse. Straßen, Dörfer, Städte. Eisenbahnen. Papas Rücken wiegt nach links, nach rechts. Papas Beine mahlen jeden Kilometer kreisrund. Alle ein bis zwei Stunden ist Pause: Aufstehen, Schauen, Reden, Getragenwerden, Krabbeln, Essen, Wickeln. Abends in der Herberge ist Zapfenstreich so gegen neun, oder wenn Papa nicht mehr kann.

"Wir hatten eine Probe-Radtour im April mit einer Übernachtung. Das ging hervorragend. Und dann war ich mit meiner Frau fünf Tage unterwegs auf dem Kocher-Jagst-Radweg". Der 338-km-Radweg entlang der Flüsse Kocher und Jagst ist inzwischen so beliebt, dass jemand eine Internetseite eingerichtet hat mit acht Tourvarianten.

Und dann kommt einer und hilft...

Die Tour ist sportlich: "Man arbeitet schon hart auf dem Fahrrad vorne mit 70 Kilo Gewicht hinten dran" – und spirituell: "Ich finde, es ist ein großes Geschenk, dass es das Kind überhaupt mitmacht", sagt Thomas Breitkreuz. Ein Geschenk Gottes? Er habe sich immer als Abhängiger erfahren auf seiner Reise, von allen Gegebenheiten, von helfenden Händen auf den Bahnsteigen oder beim Queren von engen Gattern. "Es sind die Dinge, die man nicht planen kann." Und dann kommt einer und hilft.

Elternzeit ist Vaters Zeit.  Foto: Thomas Breitkreuz

Das Kind ist für den Vater häufig zum Türöffner geworden. Herzlichkeit und Wärme, Zuspruch, Lob und hilfreiche Hände strecken sich ihm auf seinem Vater-Kind-Trip entgegen. Kinder, sagen die Psychologen, seien der Türöffner schlechthin, in jeder Kultur. Was im Allgemeinen gilt, erfährt Breitkreuz als Mann besonders. So ist es denn auch ungewöhnlich, dass Männer mit Kleinkindern alleine für mehrere Tage unterwegs sind.

Was Thomas Breitkreuz auf der Reise oft beschäftige, "sind die Alleinerziehenden". Er könne jetzt mitfühlen, "wie das ist, mit einer 24-Stunden-Verantwortung, ohne das Kind einmal abgeben zu können". Nach einem langen Tag auf dem Rad die Schuhe auszuziehen und die Beine hochzulegen – das gehe erst mal nicht, "weil der Kleine dann topfit ist". Am Ende der Etappen, wenn sie mit dem Zug am Ulmer Bahnhof wieder angekommen, sei es erholsam und gut, das Kind an seine Frau übergeben zu können und die letzte Strecke bis nach Hause auf dem Fahrrad allein zu sein.

Kleine Katastrophe im Regionalzug

Eltern, die mit Wickelkindern unterwegs sind, wissen bald, was auf sie zukommen kann. Sie bekommen ein Gespür für Situationen und entwickeln bald eine gewisse Gelassenheit. Sie haben auch im Alltag immer die größeren Taschen als andere. Solange die Kinder nicht krank werden, geht es ums Essen, um Aufmerksamkeit, die neue Windel zur rechten Zeit. Die Abenteuer verbergen sich eher darin, wann und wo das Notwendige wichtig ist – und ob es gerade passt. Nur gegen das Klima ist noch kein Elternkraut gewachsen.

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Thomas Breitkreuz erwischt es meist im Zug auf dem Weg nach Hause am Ende der Etappen. Einmal, an einem sehr heißen Tag in einem unklimatisierten Regionalzug ohne Aussicht auf den baldigen Ausstieg brüllt Johannes Alarm, eine halbe Stunde lang, und ist nicht zu beruhigen. Kein Bulldog-Trecker hilft, kein Trinken und kein Reden, kein Singen und kein Wiegen. Der resistente Unmut paart sich obendrein mit den strengen Blicken und schnippischen Kommentaren der selbst hitzeleidenden Mitfahrenden. Das sind die kleinen Katastrophen des äußeren und inneren Zweifels an der elterlichen Kompetenz.

Nach zwei Monaten Elternzeit kehrt Pfarrer Breitkreuz zurück an seine Arbeit. Er hat es mit seiner Frau, die selbst berufstätig ist, gemeinsam so entschieden. Er sagt, "wir Männer oder Väter sind oft selbst das größte Problem. Das Arbeiten müssen, die Familie ernähren." Damit ist er nicht allein. Zwei Drittel aller Väter in Elternzeit gehen über die zweimonatige Ausszeit vom Beruf nicht hinaus. Aber die Gesamtzahl der Männer, die überhaupt Elternzeit nehmen - die steigt stetig.