Wenn man sich die "I have a dream"-Rede von Martin Luther King Jr. anhört oder sie liest, merkt man, dass King ein Pastor war. Seine Worte haben oft einen religiösen Klang, die Rede erscheint hier und da wie eine Predigt. Tatsächlich spricht King fünfmal von Gott (beziehungsweise dem Herrn), und am Ende zitiert er ein Spiritual, das Gott direkt anruft: "Free at last. Free at last. Thank God almighty, we are free at last" (Endlich frei, endlich frei, Dank dir, allmächtiger Gott, wir sind endlich frei).
Andere Passagen der Rede klingen nach biblischer Sprache, wie zum Beispiel der Aufruf "Let us not wallow in the valley of despair, I say to you today, my friends." (Lasst uns nicht im Tal der Verzweiflung schwelgen – wörtlich: suhlen – das sage ich euch heute, meine Freunde.) Das klingt nach Psalm 23,4 ("Und ob schon wanderte im finsteren Tal") oder nach Psalm 84,7 ("Wenn solche durch das Tal der Tränen gehen, machen sie es zu lauter Quellen"). Aber lediglich an zwei Stellen zitiert Martin Luther King Jr. die Bibel ausführlich und beinahe wörtlich.
In einer Passage der Rede geht es um die Frage, warum die Bürgerrechtsbewegung nicht zufrieden ist mit dem, was für die schwarze Bevölkerung Amerikas bereits erreicht wurde Hier sagt er:
"No, no, we are not satisfied, and we will not be satisfied until justice rolls down like waters, and righteousness like a mighty stream."
(Nein, nein, wir sind nicht zufrieden, und wir werden nicht zufrieden sein, bis das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom herabfließen.)
Damit zitiert er den Propheten Amos, der bereits gegen 755 vor Christus mit seinem Volk hart ins Gericht ging, weil Ungerechtigkeit im Land herrschte:
Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. (Amos 5,24)
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Später in der Rede – im Teil mit "I have a dream" – bemüht King ein noch größeres Bild: das vom messianischen Friedensreich, wie es der Prophet Jesaja ungefähr 550 vor Christus genutzt hat. Jesaja wollte seinem Volk, das gefangen und verschleppt war, Hoffnung machen, dass Gott dieser Gefangenschaft ein Ende bereiten würde. So schrieb er:
Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen. (Jesaja 40,4-5)
In Kings Rede klingt es so:
I have a dream that one day every valley shall be exalted, every hill and mountain shall be made low, the rough places will be made plain, and the crooked places will be made straight, and the glory of the Lord shall be revealed, and all flesh shall see it together.
(Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht, jeder Hügel und Berg erniedrigt, die unebenen Stellen eben und die krummen Stellen gerade gemacht werden und die Herrlichkeit des Herrn offenbart wird, und alles Fleisch wird es gemeinsam sehen.)
Rede wird prophetisch
Es gibt mehrere weitere Anklänge an biblische Sprache und Motive, wie zum Beispiel die Erwähnung der "trials and tribulations" (Prüfungen und Drangsal), in denen die Teilnehmenden der Kundgebung seien. Außerdem gibt es einen Refrain, der im Jahr 2023 auch das Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentags war: "Now is the time" (Jetzt ist die Zeit):
Now is the time to make real the promises of democracy. Now is the time to rise from the dark and desolate valley of segregation to the sunlit path of racial justice. Now is the time to lift our nation from the quick sands of racial injustice to the solid rock of brotherhood. Now is the time to make justice a reality for all of God's children.
(Jetzt ist die Zeit, die Versprechen der Demokratie wahr werden zu lassen. Jetzt ist die Zeit, aus dem dunklen und trostlosen Tal der Rassentrennung auf den sonnenbeschienenen Weg der Rassengerechtigkeit hinaufzusteigen. Jetzt ist die Zeit, unsere Nation vom Treibsand der Rassenungerechtigkeit zum festen Fels der Brüderlichkeit zu erheben. Jetzt ist die Zeit, Gerechtigkeit für alle Kinder Gottes Wirklichkeit werden zu lassen.)
Baptistenpastor Martin Luther King Jr. kannte seine Bibel gut und verstand die Kraft der prophetischen Rede in ihr. Nicht zuletzt weil er diese Kraft nutzte, wurde seine Rede selbst zu einer prophetischen.