Nicht nur, dass sich die ukrainische Orthodoxie längst weitgehend von Moskau losgesagt hat. Auch in der Europäischen Union gibt es orthodox geprägte Länder, die ein Gegengewicht zur russischen Einflussnahme spielen könnten. So sieht das zum Beispiel der griechisch-orthodoxe Bischof Emmanuel von Christoupolis in Berlin. Er ist Vikarbischof der Griechisch-Orthodoxen Metropolie in Deutschland. Bischof Emmanuel ist auch Beauftragter der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland am Sitz der Bundesregierung. Für ihn ist die Orthodoxie längst selbstverständlicher Bestandteil der deutschen Demokratie. Doch das sei noch gar nicht richtig wahrgenommen worden.
"Ich kann feststellen, dass wir Orthodoxen nicht die gebührende Beachtung seitens der Politik genießen. Obwohl in der Zwischenzeit mehr als 3,5 Millionen orthodoxe Christinnen und Christen hier in Deutschland leben. Das ist eine sehr respektable Zahl. Wir sind gut integriert, wir sind nicht radikalisiert. Wir bilden keine Ghettos. Wir grenzen uns nicht ab. Wir sind ökumenisch aktiv. Und wir können Brücken zu unseren Mutterkirchen sein", sagt Bischof Emmanuel.
Mehr noch, die Orthodoxie sei nicht nur ein wichtiger Teil der deutschen Gesellschaft, sondern ganz Europas. Völlig anders als von der Russischen Orthodoxen Kirche - nicht erst seit dem Ukrainekrieg - behauptet, stünden Moderne, Demokratie und Menschenrechte gerade nicht im Gegensatz zum eigenen Glauben, sagt Bischof Emmanuel:
"Wenn Orthodoxie und Menschenrechte nicht vereinbar wären, hätte man kaum die vier orthodox geprägten Länder in die EU aufgenommen: Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Zypern."
Dieses orthodoxe Potential werde aber von der westlichen Politik völlig vernachlässigt. Fatalerweise, meint Oliver Jens Schmitt, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Er versteht nicht, wie die Europäische Union im Ukraine-Krieg jegliche Diskurshoheit über die Orthodoxie einfach Moskau überlässt.
"Warum wird nicht einmal versucht, darüber zu reden, wie man Orthodoxie und Demokratie und Rechtsstaat zusammendenken kann? Will man die Ukraine und Teile des Balkans in die EU aufnehmen, werden wir es zusätzlich mit einer zwischen 80 und 90 Millionen Menschen zählenden orthodoxen Bevölkerungsgruppe zu tun haben", schaut Schmitt in die europäische Zukunft.
Menschenrechte als eine Erfindung zur Zerstörung
Die russische orthodoxe Kirche macht dagegen schon seit Jahren Stimmung gegen den Westen. Bereits 2008 versuchte das Moskauer Patriarchat in den "Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte" das Böse in der Welt zu beschreiben. Das Böse, gegen das man ankämpfen müsse, sei Abtreibung, Selbstmord, Unzucht, Perversität, die Zerstörung der Familie, Homosexualität, überhaupt die Menschenrechte als eine Erfindung des Westens zur Zerstörung der heiligen orthodoxen Welt.
Doch die Orthodoxie ist weit mehr und wesentlich älter als Moskau. Bereits in der frühen Kirche entstand die Idee der Pentarchie, die Idee der fünf Patriarchien: Alexandria, Jerusalem, Antiochien, Konstantinopel. Und als einzige im Westen Rom. Wobei der Anspruch des römisch-katholischen Papstes als Oberhaupt der ganzen Kirche abgelehnt wurde. Erst ab dem Mittelalter bildeten sich orthodoxe National-, also autokephale Kirchen. Mittlerweile gibt es 15 von ihnen. Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel hat das Ehrenprimat inne. Der eigene Anspruch, Russland sei nun so etwas wie die Mutter aller Orthodoxie, sei also völlig irrig, sagt Oliver Jens Schmitt.
Zusammenschluss einer EU-Orthodoxie?
Europa sollte daher weiterdenken und so etwas wie eine geeinte EU-Orthodoxie ins Feld führen. Denn die russische orthodoxe Kirche will immer mehr Macht. Bekannt ist etwa Moskaus Einfluss in Serbien. Aber es geht mittlerweile schon um ganze Kontinente und um Geopolitik.
"Da gibt es das big game um Afrika. Die Orthodoxen von Afrika unterstanden immer dem Patriarchen von Alexandria. Und jetzt auf Grund der Migration kommt es auch zur Bildung neuer orthodoxer Gemeinschaften und die müssten eigentlich Alexandria unterstehen. Alexandria ist aber pro-westlich. Und jetzt beginnt die russische Kirche mitten in Afrika eine eigene Kirchenstruktur aufzubauen", warnt Oliver Jens Schmitt von der Universität Wien.
Die Orthodoxie müsse somit zum Faktor der deutschen und vor allem der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik werden. So sollte die westliche Politik etwa auch die Friedensimpulse aus der orthodoxen Welt wahrnehmen und nutzen, wie sie nicht nur vom Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel ausgingen, sondern zuletzt in diesem Jahr auch aus Rumänien kamen.
Dort haben führende Laientheologen und Intellektuelle, die der Kirche nahestehen, einen Aufruf veröffentlicht, dass Ostern zukünftig an dem Termin der Westkirchen sein soll. Das hat angesichts der Symbolik des Ostertermins eine große Debatte in Rumänien ausgelöst. Die Idee dahinter ist, dass alle demokratisch gesinnten Orthodoxen Ostern bewusst an einem anderen Tag feiern als Moskau, um so ein Zeichen für Westintegration, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu setzen.
Letztlich könnte man Putin eine seiner wichtigsten Propaganda-Waffen aus der Hand schlagen, sagt der Experte für die Ostkirchen Oliver Jens Schmitt, wenn Europa nur endlich allen Russinnen und Russen eine klare Botschaft senden würde: "Der Westen hat kein Problem mit der Orthodoxie! Glaubt nicht Putin! Was Euch wichtig ist in Eurer christlichen Tradition ist uns hochwillkommen! Aber es geht nicht zusammen mit Diktatur, Gewalt und Krieg, sondern Eure Orthodoxie geht mit Demokratie, Frieden und Rechtsstaat zusammen."