Reihung abgebrannter bis komplette Streichhötzer
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Der Psychologe Jörg Berger gibt einen Einblick in die Volkskrankheit "Erschöpfung" und zeigt auf, wie es gelingen kann aus ihr auszubrechen.
Psychotherapeut Berger
Schrittweise aus der Erschöpfung
Viele Menschen klagen zunehmend über Erschöpfung, Müdigkeit und geringe Stresstoleranz. Zwar habe jede Generation ihre eigenen Herausforderungen, sagt der Heidelberger psychologische Psychotherapeut Jörg Berger. Doch die "höheren Anforderungen an Menschen heute sind real".

Es sei jedoch möglich, das eigene Leben in kleinen Schritten mehr in Einklang mit den eigenen Wünschen zu bringen, ist sich der Heidelberger psychologische Psychotherapeut Jörg Berger sicher.

epd: Herr Berger, Erschöpfung gilt mittlerweile als Volkskrankheit. Leben wir wirklich in einer erschöpften Gesellschaft? Waren die Menschen früher entspannter oder wird heute zu viel gejammert?

Jörg Berger: Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen, aber je nach Umfrage fühlen sich etwa 30 bis 50 Prozent der Menschen in Deutschland erschöpft oder ausgelaugt. Die höheren Anforderungen an Menschen heute sind real. Vor allem in der Schule, im Studium oder am Arbeitsplatz haben sich die Anforderungen verdichtet, etwa wenn an Gymnasien der gleiche Unterrichtsinhalt in acht statt in neun Jahre hineingepresst wird. Oder wenn am Arbeitsplatz ältere Kollegen erzählen, wie es vor 30 Jahren war - das ist ein himmelweiter Unterschied. Es ist heute so viel dazugekommen, an Qualitätssicherung, an Dokumentation, an Effizienzsteigerung.

Gibt es noch weitere Faktoren, die das Leben anstrengender machen?

Berger: Ja, die Globalisierung belastet unser Nervensystem. Früher waren Krisen meist weit entfernt. Man hat zwar darüber gelesen und mitgefühlt, man hatte aber keine unmittelbaren Rückkoppelungen. Wenn aber etwas fernab nicht gut läuft und plötzlich unmittelbar auf das eigene Leben zurückschlägt, das muss ich erstmal nervlich verkraften. Ein aktuelles Beispiel sind die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf unser Leben.

Spielt auch die Digitalisierung eine Rolle?

Berger: Die Digitalisierung hat viele bereichernde Aspekte, kann aber viel zu einem erschöpften Leben beitragen. Das digitale Leben kommt ja zu unserem analogen Leben noch hinzu, das wir ja auch noch führen wollen und müssen. Das kann zur nervlichen Überreizung führen, allein durch die sozialen Medien, die unsere Anforderungsliste weiter füllen. Unser digitales Leben so zu gestalten, dass man davon nicht erschöpft wird, das ist wirklich eine Herausforderung. Das Erschöpfungsrisiko ist hier hoch, auch für Menschen, die unter anderen Bedingungen nicht zur Erschöpfung neigen.

"Digitales Leben so zu gestalten, dass man davon nicht erschöpft wird, ist eine Herausforderung."

Nun gibt es Menschen, die sind so erschöpft, denen ist wirklich alles zu viel. Was raten sie denen?

Berger: Man darf erschöpften Menschen nichts anbieten, was auf ihr Pensum noch obendrauf kommt. Ausdauersport oder Entspannungsübungen können bei Erschöpfung hervorragend helfen. Aber das hilft erschöpften Menschen oft nicht. Wo sollen sie das in ihrem ohnehin vollen, erschöpften Leben noch unterkriegen? Wenn man schon erschöpft ist, wird alles anstrengender. Dann kann man in eine Spirale kommen, aus der man nicht mehr allein herausfindet.

Wie äußert sich das?

Berger: Wenn man durch die Erschöpfung dünnhäutig wird und uns bestimmte Ereignisse, die uns früher nichts ausgemacht haben, nahe gehen und mehr emotionale Energie kosten. Das ist ein Teufelskreis. Ab einem gewissen Grad kann man das auch nicht mehr allein stoppen. Dann braucht man Hilfe von außen. Aber wenn es noch nicht so weit ist, kann man auch selbst eine Anti-Erschöpfungs-Strategie anwenden.

Gegen Erschöpfung hilft nach Ansicht des Heidelberger Psychologen Jörg Berger die Kunst des Weglassens.

Wie sieht die aus?

Berger: Da gibt es vor allem den Weg des Weglassens. Man muss ja nicht alles mitmachen, was erschöpft. Eine Schlüsselfrage ist: Tut mir das wirklich gut? Man kann sich auch fragen: Muss ich das alles erreichen, wissen, können oder haben? Vieles in unserem Leben sind gute und erstrebenswerte Dinge, aber viele sind nur "nice-to-have". Bei manchem werden wir von etwas angetrieben, was uns nicht guttut. Wenn man es weglässt, dann entstehen plötzlich Räume, in denen man zu den Pausen findet, zu denen man bisher nie gekommen ist.

Was kann man in seinem Leben noch entrümpeln?

Berger: Etwa den Bereich der Beziehungen. Auch hier können wir uns an den schon genannten Fragen orientieren: Brauche ich das wirklich, tut mir das gut, stillt es meine zentralen Bedürfnisse? Manche Beziehungen sind ja gesetzt, wie Familie, Arbeitskollegen und Nachbarn.

"Wer sind die Menschen, die mir guttun?"

Aber wir haben erhebliche Spielräume, wie viel Nähe wir zu wem eingehen. In Paarbeziehungen oder Freundschaften ist man ganz frei, wen man in sein Leben lässt, wem man wie nah sein will. Wer sind die Menschen, die mir guttun, welche kosten mich Energie? Man kann auch Nein sagen oder sich zu einem anstrengenden Menschen mehr Abstand erlauben. Ein solches Verhalten hat sehr positive Auswirkungen auf den Energiehaushalt.

Wir alle leben aber doch in vielen Sachzwängen.

Berger: Klar, unsere Gesellschaft ist so, wie sie ist. Dennoch macht es einen dramatischen Unterschied, wenn Menschen die Freiheitsgrade erkennen, die sie haben. Diese können sie nutzen und ihr Leben in einer Weise umgestalten, dass es ihnen und ihren wirklichen Bedürfnissen entspricht.

Könnte man sich selbst auch eine längere Auszeit verordnen, einen Stopp einlegen, vielleicht mehrere Tage oder Wochen gar nichts tun?

Berger: Da gibt es ein paar psychologische Aspekte, die man beachten muss. Wenn man sich einen Tag oder eine Woche Auszeit nimmt, dann begegnet man den Gefühlen, die man sonst an die Seite schiebt. Deswegen ist der Rat, nimm Dir doch mal ein paar Tage Auszeit, dann kommst Du schon wieder runter, unter Umständen ein gefährlicher Rat. Denn dann begegnet einem alles, was sich angestaut hat, auf einmal. Das kann eine Überforderung sein. Deswegen ist es gut, wenn man sich darauf ein wenig vorbereitet.

Welche Gedanken und Gefühle könnten da auftauchen?

Berger: Wir sind ja alle Menschen, die sich vergleichen und wertvoll sein wollen für andere. Wenn man jetzt anfängt zu entrümpeln und sagt, vielleicht muss ich ja manches nicht mehr können, haben und wissen, dann hat das eine Rückwirkung auf das Selbstwertgefühl. Darauf sollte man vorbereitet sein, weil man mit manchen Mitmenschen vielleicht nicht mehr mithalten kann. Das ist aber überhaupt nicht schlimm. Wenn man das einordnen kann und sagt, dafür habe ich eine Freiheit, mein Leben so zu gestalten, wie es zu mir passt, dann ist es ein wenig Scham wert.

 

Wie kann man grundsätzlich besser mit Emotionen umgehen?

Berger: Ich kann schauen, welche Stimmen und Prägungen in mir sind. Passen die heute noch zu mir, verursachen sie negative Gefühle, die eigentlich unnötig sind? Treiben sie mich zu Dingen, die ich gar nicht brauche? Es ist ein wichtiger Hebel, wenn man für sich herausfindet, was an inneren Stimmen und Prägungen da ist. Dann kann man auch entscheiden, welche Prägungen gut und welche schädlich sind. Manche persönlichen Prägungen kommen aus den Lebenserfahrungen der Eltern, die in einer ganz anderen Welt gelebt haben. Sie passen heute nicht mehr und ich muss mich von diesen nicht bestimmen lassen. Dadurch hat man eine große Chance, das eigene Leben mehr in Einklang zu bringen, mit dem, was man wirklich ist und was man wirklich braucht. Darin liegt ein großes Anti-Erschöpfungspotenzial.