Foto: Katrin Binner
Intoleranz - ein dunkler Schatten über der Reformation.
Toleranz mussten die Evangelischen erst lernen
Luther, Zwingli und Calvin hatten viele gute Ideen - aber wenig Verständnis für die des jeweils anderen. Toleranz war kein Kernthema der Reformation. Der Gedanke, andere Haltungen anzuerkennen, kam erst mit der Aufklärung. Im Themenjahr "Reformation und Toleranz", das am Mittwoch beginnt, müssen die evangelischen Kirchen bekennen, dass sie Toleranz erst lernen mussten - und damit noch nicht fertig sind.
30.10.2012
Thies Gundlach

Das Themenjahr "Reformation und Toleranz" 2013 stellt die Evangelische Kirche in Deutschland vor besondere Herausforderungen: Es gilt – im Unterschied zu den durchaus selbstbewusst und mit Dankbarkeit gegenüber den Vätern und Müttern zu entfaltenden Themen der Reformations-/Lutherdekade wie "Reformation und Freiheit" 2011 oder "Reformation und Musik" 2012 – ein Thema der Scham- und Schuldgeschichte der reformatorischen Kirchen zu benennen.

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Die Reformation hat – bei allen zu würdigenden Toleranzansätzen – keinen wirklichen Zugang zum Thema Toleranz gefunden. Toleranz gehört nicht zu den Schmuckstücken reformatorischer Kirchengeschichte, hier gibt es keine Heldengeschichten zu erzählen, sondern intolerante Haltungen einzugestehen, die letztlich erst durch die Aufklärung überwunden wurden. Auch diese Aufklärung entnahm wichtige Impulse aus den reformatorischen Grundeinsichten, aber wahr bleibt auch: Die Aufklärung musste gegen die beiden im gegenseitigen Vernichtungswillen verhafteten Kirchen durchgesetzt werden. Glaubwürdigkeit zu gewinnen im Blick auf die Jubiläumsfeier 2017 (500 Jahre Reformation) gelingt aber nur, wenn sich die evangelische Kirche selbst mit den von der Reformation geworfenen langen Schatten auseinandersetzt.

Die dunklen Schatten der Intoleranz, die das neu entdeckte Licht der Reformation geworfen hat, sind von Anfang an zu beklagen. So sehr uns der reformatorische Aufbruch der Generation Martin Luthers, Huldrych Zwinglis und Johannes Calvins beeindruckt im Blick auf ihren Mut gegenüber der alles dominierenden katholischen Kirche, so sehr setzt uns die Intoleranz dieser Generation gegenüber ihren eigenen reformatorischen Partnern zu. Vom Bilderstreit in Wittenberg, den Luther gegen seinen ursprünglichen Mitstreiter Karlstadt ausfocht, über die unsäglichen Hetzschriften Luthers gegen die Bauernaufstände bis hin zur grausamen Verfolgung der Täufer ist die Entdeckung der Freiheit des Evangeliums begleitet von einem intoleranten Kampf um die Wahrheit.

Ab 1555: Glaube je nach Wohnort

Dies mag auch mit dem Erschrecken zu tun haben, dass die von der Reformation entdeckte Freiheit eines Christenmenschen naturgemäß auch die Freiheit von Andersglaubenden und -handelnden freilegt. Es hat sich eingebürgert, die Verbrennung Michael Servets anlässlich des sogenannten antitrinitarischen Streites in Genf und die Zustimmung von Johannes Calvin zu dieser Verbrennung als das Zeichen der Intoleranz der Reformation zu nehmen. Aber diese Tat ist das Ende, nicht der Anfang einer intoleranten Dimension der Reformation: Martin Luther ist insofern ein mittelalterlicher Mensch geblieben, als er sich nicht vorstellen konnte, dass unterschiedliche Wahrheits- und Glaubensvorstellungen nebeneinander bestehen können; und eben dies war "opinio communis" der damaligen Welt, die noch sehr lange galt.

Denn auch die Friedensverhandlungen 1555 mit ihrer Grundregel, dass derjenige Glaube für alle gilt, der vom jeweiligen Herrscherhaus eines Gebietes übernommen wurde (cuius regio, eius religio), war lediglich eine befriedende Maßnahme unter der intoleranten Voraussetzung, dass in einem Staatsgebiet nicht verschiedene Glaubensweisen leben können. Befriedend war diese Lösung, insofern man zwar aus seinem angestammten Wohngebiet vertrieben werden konnte, nicht aber aus seinem erworbenen Glauben. Die Gewissen blieben frei, die Religionsausübung durfte in einer anderen Region gelebt werden.

Mit dieser Grundhaltung wurde zwar Frieden gestiftet zwischen der römisch-katholischen und der lutherischen und nach 1648 auch der reformierten Konfession, aber es blieben viele andere auf der Strecke: Nicht nur der sogenannte linke Flügel der Reformation, sondern auch der jüdische Glaube und die Friedenskirchen. Von wirklicher Religionstoleranz sind die damaligen Lösungen weit entfernt.

Freiheit von innen und von außen

Grundsätzlich gilt: Im christlichen Glauben ist die Haltung der Toleranz ebenso angelegt wie die der Intoleranz. Es gibt Anknüpfungspunkte zu beiden inneren Haltungen und ein ehrlicher Rückblick auf die vergangenen 500 Jahre Reformationsgeschichte zeigt vor allem, dass auch in den reformatorischen Kirchen und ihrer Theologie die Kräfte der Intoleranz lange Zeit dominierten. Man kann bestenfalls von einer Lerngeschichte in Sachen Toleranz erzählen, initiiert und getragen von einer Aufklärung, die zwar nicht prinzipiell gott- und glaubensfeindlich war, die ihre wesentlichen Einsichten aber weithin gegen die Kirchen durchsetzen musste.

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Schon während des Dreißigjährigen Krieges hat eine erschöpfte europäische Gesellschaft den Mut und die Einsicht entwickelt, das Existenzrecht der Bürger zu unterscheiden von den Wahrheitsansprüchen. Der Jurist Hugo Grotius hat für diese Entwicklung gewissermaßen 1625 den Startschuss gegeben: durch seine berühmte Formulierung, dass das Recht auch gelte "etsi deus non daretur" (auch wenn es Gott nicht geben sollte). Natürlich speist sich diese Einsicht auch aus der reformatorischen Grunddifferenz zwischen Person und Werk.

Das Innere (coram deo) und das Äußere (coram mundo) werden unterschieden, das Äußere mag von der Staatsgewalt bestimmt werden, das Innere aber, das Gewissen, der Glaube und die Gedanken bleiben frei und unabhängig von aller Obrigkeit. Diese Freiheit, die Martin Luther schon vor Kaiser und Reich 1521 in Anspruch genommen hat, wurde wiederentdeckt und gleichsam demokratisiert und generalisiert. Sie aber wirklich durchzusetzen und für jeden Menschen einklagbar zu machen, war noch ein langer Lernweg, den nun nicht nur die Kirchen und Konfessionen, sondern alle gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte gehen mussten.

Heute: Muslime kennenlernen

Die notwendige Lerngeschichte dauert an bis heute. Man wird zwar das Verhältnis der beiden großen Kirchen in Deutschland nicht mehr mit der Kategorie Toleranz beschreiben wollen, weil nach 100 Jahren ökumenischer Bemühungen die Gemeinsamkeiten mit großer Selbstverständlichkeit gelebt werden. Immer besser gelingt nach 50 Jahren jüdisch-christlichem Dialog und den weiterhin nötigen gemeinsamen Anstrengungen der christlichen Kirchen, jeder Form von Rassismus und Antisemitismus entgegenzutreten, auch das Verhältnis zu den jüdischen Glaubensgeschwistern zu pflegen, wobei wir auch hier nicht von Toleranz sprechen, sondern von Geschwisterlichkeit und Partnerschaft.

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Anders und ungeübter ist es dagegen im Verhältnis der christlichen Kirchen zu den muslimischen Mitbürgern. Der Islam gehört zu Deutschland; so unbestreitbar richtig dieser Satz ist, so wenig ist es den reformatorischen Kirchen und ihrer Theologie gelungen, ein ausgereiftes Verhältnis zu dieser Religion zu finden. Zu oft pendeln verschiedene Stimmen zwischen kritischer Klarheit und harmlos guter Nachbarschaft hin und her. Das mag auch darin begründet sein, dass das Gegenüber zur Toleranz auch heute nicht zuerst Intoleranz, sondern die Angst um Identität ist. Toleranz ist herausgewachsen aus einer reinen, paternalistischen Duldung.

Toleranz ist heute eine aktive Haltung, die den anderen, den Fremden kennenlernen und verstehen will. Toleranz meint nicht nur ein Hinnehmen dessen, was ich sowieso nicht verhindern kann, sondern Toleranz meint ein Sich-Bemühen um den anderen. Dazu aber ist es unerlässlich, sich der eigenen Position sicher und klar zu sein. Gute Nachbarschaft gelingt erst, wenn man Klarheit in den eigenen Positionen gewonnen hat. Insofern ist jeder Dialog der Verschiedenen zugleich die Aufforderung, sich der eigenen Überzeugungen bewusst zu sein.

Dazu gehört auch die Verantwortung dafür, die Grenzen einer verantwortbaren Toleranz zu kennen. Die Toleranz muss intolerant werden, wenn sie es mit den Feinden der Toleranz zu tun bekommt. Es geht um eine wehrhafte Toleranz, der ebenso viel daran liegt, den anderen zu kennen und zu verstehen, wie ihr daran liegt, den Feinden solcher Toleranz zu widerstehen. Denn es nähert sich ja einer Selbstvergleichgültigung der reformatorischen Lerngeschichte in Sachen Toleranz, wenn die Grenzen der Toleranz nicht auch im heutigen Gespräch der Religionen formuliert würden. Und dass diese Lerngeschichte nur im Dialog und nicht statt Dialog weitergegeben werden kann, liegt ja auch auf der Hand.

Dieser Text stammt aus dem Magazin der EKD zum Themenjahr "Reformation und Toleranz". Er erschien dort unter dem Originaltitel "Verdunkelter Christus".