Naime Demircis Gesicht ist von ihrer schweren Krankheit gezeichnet. Die 60-Jährige kann nicht mehr allein aufstehen und sich nicht mehr allein waschen. Multiple Sklerose im Endstadium. Die Stimme der Kranken ist leise, aber klar. Sie spricht nur Türkisch, Deutsch hat die Frau in ihrer neuen Heimat nie richtig gelernt. Auch lesen kann sie nicht. Umso wichtiger ist es für sie, dass ihr die Pflegekraft Suren aus dem Koran, der Heiligen Schrift des Islam, vorlesen kann. Sie nimmt die Hand der jungen Frau an Ihrem Bett und drückt sie.
Yasli, Engelli, Hasta. Die türkischen Wörter für alte, behinderte und kranke Menschen stehen auf dem Dienstauto von Sehnaz Korkmaz, einem weiß-schwarzen Smart. Über der Schrift ist ein Nazar Boncugu abgebildet, ein blaues Glasauge zur Abwehr des bösen Blicks – ein türkischer Glücksbringer. Der Tagesplan von Sehnaz Korkmaz, deren weißes Kopftuch straff um den Kopf gebunden ist, erlaubt keine Verspätungen.
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Täglich besucht sie zehn bis 15 pflegebedürftige Menschen. Die gelernte Alltagsbetreuerin arbeitet seit zwei Jahren beim Interkulturellen Pflegedienst Can in Stuttgart. Die 23-Jährige war eine der ersten Mitarbeiterinnen. "Ich wollte wissen, wie es ist, Menschen aus dem eigenen Land zu betreuen", sagt sie. Sehnaz Korkmaz ist Muslimin, doch allzu orthodox darf sie ihren Glauben nicht auslegen. Dass Frauen fremde Männer berühren, ist im Islam eigentlich ein Tabu, nur in Notlagen ist es erlaubt. Wenn ein Mann keinen weibliche Angehörige habe, die ihn pflegt, dann sei das aus ihrer Sicht eine Notlage, sagt Shenaz Korkmaz. "Manchmal haben mich Freunde gefragt, ob es nicht komisch sei, männliche Patienten zu pflegen", erzählt sie. "Dann sage ich: 'Was getan werden muss, muss eben getan werden.'"
Sehnaz Korkmaz drückt die Klingel an einem Mehrfamilienhaus. Der Türöffner summt, die junge Pflegekraft eilt die Treppen hinauf. Vor einer Fußmatte mit bunt aufgereihten Schuhen bleibt sie stehen. Die Tür geht auf. Eine kräftige Frau im mittleren Alter, dunklen Augenringen und Dutt auf dem Kopf öffnet die Tür. "Selam", sagt sie, schwenkt ihren Arm einladend zur Seite und bittet Sehnaz Korkmaz wortreich hinein. Ihre goldenen Sandalen bleiben auf der Fußmatte zurück und fügen der bunten Reihe eine weitere Farbe hinzu.
Ein Koffer voller Träume
In Deutschland leben zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime, das ergab eine Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz. 2,5 bis 2,7 Millionen von ihnen haben türkische Wurzeln. Davon sind zurzeit rund 100.000 im Rentenalter. Und diese Zahl wächst rasch. Im Durchschnitt haben die Migranten ein geringeres Einkommen als deutsche Ruheständler. Zudem sind sie gebrechlicher – gerade den Einwanderern der ersten Generation hat die harte körperliche Arbeit zugesetzt. Schichten beim Daimler, Ranklotzen auf dem Bau. Die ausländischen Senioren leiden im Vergleich zu den deutschen viel öfter an chronischen Krankheiten. Und ihre Beschwerden häufen sich, "multimorbid" lautet dann die Diagnose.
Die Pflegerin Sehnaz Korkmaz beim wöchentlichen Auffüllen der Medikamentendose eines Patienten. Foto: Benny Ulmer
Einst kamen sie als junge Männer und Frauen mit einem Koffer voller Träume nach Deutschland. Viele wollten nach wenigen Jahren in die Heimat zurückkehren. Doch aus Jahren wurden Jahrzehnte, die Migranten gründeten Familien und schlugen Wurzeln in deutscher Erde. Ihre Kinder und Enkel leben hier. Die einstige Heimat ist vielen fremd geworden. "Die wenigsten kehren in die Türkei zurück", sagt Kenan Can.
Der Gründer und Leiter des interkulturellen Pflegedienstes in Stuttgart sitzt in seinem Feuerbacher Büro, hinter ihm hängt eine kleine türkische Fahne. Seine Eltern kamen 1967 als einfache Arbeiter nach Deutschland. Kenan Can machte das Fachabitur, schloss eine Ausbildung als Alten- und Krankenpfleger ab, belegte einen zweijährigen Kurs im Pflegemanagement und arbeitete später als verantwortliche Pflegefachkraft bei der Caritas. Dann brachte ihn sein Bruder, Journalist bei der Tageszeitung "Hürriyet", auf die Idee, einen interkulturellen Pflegedienst zu eröffnen: "Er erzählte mir von drei kulturspezifischen Pflegeprojekten in Berlin, Köln und Mannheim und der großen Versorgungslücke von muslimischen Einwanderern in Deutschland."
"Glückwünsche zum Zuckerfest"
Kenan Can prüfte vier Monate lang akribisch, wie groß die Not ist und welche Hilfe benötigt wird. In Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge fiel ihm das Stadtgebiet Stuttgart auf. "Hier leben rund 25.000 Senioren mit türkischem Migrationshintergrund, die meisten haben jahrzehntelang in den großen, ortsansässigen Unternehmen und Fabriken gearbeitet. Nur ein Bruchteil von ihnen nimmt ambulante oder stationäre Pflegedienste in Anspruch." Can sprach mit Menschen in türkischen Vereinen, mit dem Klinikpersonal in Krankenhäusern, mit türkischen Ärzten und sogar mit dem Botschafter im türkischen Konsulat. "Ich rannte offene Türen ein. Viele Ärzte und Pflegekräfte haben schon lange auf eine Einrichtung wie unsere gewartet. Gerade Beschäftigte in der Pflege sind vielfach überfordert. Sprachliche Barrieren stehen oftmals zwischen ihnen und den Kunden."
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So entschied sich Can vor zwei Jahren dazu, einen ambulanten Pflegedienst zu eröffnen, der auf kulturelle, sprachliche und religiöse Besonderheiten seiner Kunden eingeht. "Das fängt bei kleinen Alltagssitten an, wie die Schuhe vor der Tür auszuziehen oder Glückwünsche zum Zuckerfest zu überbringen", sagt Kenan Can. "Einige Kunden wünschen sich eine Pflegekraft, die ein Kopftuch trägt oder rituelle Waschungen vornehmen kann. Vielen ist auch die Sprache wichtig, da sie kaum oder gar kein Deutsch verstehen." Kenan Can startete sein Unternehmen mit zwei Mitarbeitern, mittlerweile arbeiten 34 Personen in seiner Firma, die meisten davon in Teilzeit.
Deutsche Pflegekräfte hat er bisher nicht eingestellt, obwohl er auch deutsche Kunden hat. "Wenn sie Türkisch oder zumindest Arabisch sprechen und die Kultur kennen, wäre es natürlich kein Problem", sagt Kenan Can. "Der Vorteil an meinen jetzigen Mitarbeitern ist aber, dass sie alle in zwei Kulturen leben, mindestens zwei Sprachen sprechen und ihnen weder der Koran noch traditionelle Lebensweisen fremd sind." Sehnaz Korkmaz ist glücklich mit ihrem Arbeitsplatz, auch weil sie als Muslimin hier ein Kopftuch tragen kann, ohne dass sie schräg angeguckt wird. Ihre Gebete, fünfmal am Tag, kann sie während der Arbeit sprechen. In der Abstellkammer, gleich neben dem Büro des Chefs, befinden sich die Gebetsteppiche.
"Der Bedarf an kulturspezifischer Pflege ist riesig"
Am frühen Vormittag kommt Sehnaz Korkmaz bei ihrer fünften Kundin an. "Merhaba", sagt sie, schlüpft erneut aus ihren goldenen Sandalen und betritt die Wohnung durch die Terrassentür. Sehnaz Korkmaz huscht barfuss ins Innere der Wohnung. Die Tür geht leise zu. Innen sitzt Ayse Turgut in ihrem Rollstuhl. Die 73-jährige Frau hat Jahrzehnte bei einem Automobilzulieferer gearbeitet, trotzdem ist ihr Deutsch schlecht, viele Worte hat sie vergessen. Sie ist geschieden, hat wenig Geld, nur ihre Tochter kommt regelmäßig vorbei, um die Einkäufe der Mutter zu erledigen. Tränen stehen der alten Dame in den Augen, ihre Hände zittern. Sehnaz Korkmaz legt ihr eine Hand auf die Schulter und spricht beruhigend auf sie ein. Dass Ayse Turgut Hilfe bekommt, ist nicht selbstverständlich. "Die meisten älteren Türken wissen nichts über Pflegekassen und Pflegestufen und haben keine Ahnung, an wen sie sich wenden müssen", sagt Sehnaz Korkmaz.
Die mangelnden Sprachkenntnisse sind eine zusätzliche Hürde. Was jahrzehntelang am Fließband nicht auffiel, wird so plötzlich zum Problem. "Der Bedarf an kulturspezifischer Pflege ist riesig", sagt Kenan Can. Erst am Tag zuvor sprach er mit einem Iman aus Dortmund. "Dort wäre man über die Einrichtung eines interkulturellen Pflegedienstes froh." In der Schwerindustrie und den Zechen arbeiteten jahrzehntelang Gastarbeiter, die heute auf Hilfe angewiesen sind.
In Stuttgart erreichen den Pflegedienstleiter bis zu zehn Anfragen in der Woche. Kenan Can führt bereits eine Warteliste. Seine aktuell 140 Patienten sind nicht nur Türken und Deutsche, sondern auch Albaner, Iraner, Inder und Afghanen – und nicht immer streng gläubig: "Ich schätze, für etwa die Hälfte unserer Kunden ist die Religion elementar." Naime Demirci möchte unter fließendem Wasser gereinigt werden, sowie es der Koran vorsieht. Als sich die schwer kranke Frau von ihrer jungen Pflegekraft verabschiedet, sagt sie: "Das Gefühl, etwas für meine Religion tun zu können, schafft in meinem Inneren Frieden."