"Abenteuerfilm, Liebesgeschichte, Sozialdrama" hat das ZDF versprochen, als es diesen historischen Zweiteiler vor sieben Jahren zur Adventszeit ausstrahlte. Die Beschreibung passt perfekt, aber "Gotthard" ist sogar noch etwas mehr, denn das Drehbuch von Stefan Dähnert verblüfft durch einige aktuelle Bezüge.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schauplatz weiter Teile der Geschichte ist Göschenen, vor rund 150 Jahren ein Dorf mit dreihundert Einwohnern. Hier will der Schweizer Unternehmer Favre eine epochale Vision realisieren und einen Tunnel quer durch den Gotthard bohren. Doch das Jahrhundertprojekt hat immer wieder mit Schwierigkeiten zu kämpfen, denn der Berg widersetzt sich; das harte Gestein lässt einen Bohrer nach dem anderen zerbrechen. Favre geht eine riskante Wette auf die Zukunft ein und überzeugt die Geldgeber, in das gerade erst erfundene Dynamit zu investieren. Während diese Hürde genommen werden kann, gibt es regelmäßig Ärger mit den Arbeitern, erst recht, als Favre wieder mal das Geld ausgeht.
Dähnert, zu dessen besten Arbeiten nach wie vor ein Doppel-"Tatort" aus Hannover ("Wegwerfmädchen"/"Das goldene Band", 2012) gehört, erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines jungen Mannes aus dem Schwarzwald: Max (Maxim Mehmet) ist angehender Ingenieur und sieht in Favres Projekt die Chance, Teil von etwas ganz Großem zu werden. Er verliebt sich in die Fuhrmannstochter Anna (Miriam Stein) und löst mit ihrer Hilfe ein dringendes Transportproblem.
Seine Warnungen vor einer Einsturzgefahr des Tunnels verhallen jedoch ungehört. Als es tatsächlich zur Katastrophe kommt, begreift Favre, welches Potenzial in dem jungen Mann steckt, und befördert ihn in die Zentrale nach Luzern. Dort kommt Max schließlich auch auf eine brillante Lösung für die Geldprobleme des Unternehmens: Er erfindet den "Favre-Franken" und will die Arbeiter auf diese Weise an der Firma beteiligen. Nun ist es an ihnen, eine Wette auf die Zukunft einzugehen: Führen sie das Projekt zu Ende, winkt ihnen viel Geld; geht Favre pleite, stehen sie mit leeren Händen da.
Der vor drei Jahren verstorbene vielfach ausgezeichnete Schweizer Urs Egger (Grimme-Preis für "Der Fall Bruckner", 2014) hat die Geschichte des ersten Alpentunnels als episches Werk mit großem Aufwand umgesetzt; gerade die Szenen im Tunnel bebildern seriös, wie miserabel die Arbeitsbedingungen für die überwiegend aus dem Piemont stammenden Mineure waren. In diesen Momenten entfaltet die Musik von Fabian Römer besonders große Wirkung. Auch bei der Ausstattung wurde großer Wert auf Authentizität gelegt, aber dank einer fast dokumentarischen Bildgestaltung sind Kostüme und Material nie wichtiger als die Handlung.
Mindestens genauso viel Bedeutung bekommt jedoch die persönliche Ebene. Maxim Mehmet ist eine gute Besetzung für den Ingenieur, der es nicht wagt, Anna seine Liebe zu gestehen, und die Frau stattdessen seinem besten Freund Tommaso (Pasquale Aleardi) überlässt. Der ebenso lebenslustige wie charismatische Italiener ist die schillerndste Figur des Films. Anfangs, als sich die beiden unterschiedlichen Männer angesichts des letzten freien Betts im Ort widerwillig zusammenraufen, gibt es sogar heitere und unbeschwerte Szenen.
Das ändert sich, als Tommaso zum Wortführer der Arbeiter wird, um gegen die Missstände zu protestieren. Schließlich wird er als Rädelsführer ohne Lohn entlassen; nun droht seine Ausweisung. Anna wiederum will eine Pension für die Arbeiter betreiben, darf aber als Frau nicht Unternehmerin werden, und ausgerechnet Max hat eine Idee, mit der beiden geholfen ist. Als er drei Jahre später aus Luzern zurückkehrt, wird ihm klar, dass dies der größte Fehler seines Lebens war, doch selbst eine gemeinsame Nacht mit Anna kann seiner Freundschaft zu Tommaso nichts anhaben.
Das ändert sich erst, als es zum Arbeiteraufstand kommt und die Freunde endgültig auf verschiedenen Seiten stehen; erst recht, als Max die Kavallerie zu Hilfe ruft und Schüsse fallen.
Es gibt spektakuläre Bilder und sehenswerte Schauspieler; neben den drei ausgezeichneten Hauptdarstellern gilt dies vor allem für Joachim Król als leitender Bauingenieur (im ersten Teil), Roeland Wiesnekker als unsympathischer Repräsentant der Obrigkeit sowie Carlos Leal als melancholischer Visionär, der den Durchstich am Schluss nicht mehr erlebt. Die größte Qualität dieses auch mit knapp 180 Minuten nicht zu langen Films ist jedoch die geschickte Verknüpfung der verschiedenen Erzählebenen.
Freundschaft und Liebe haben den gleichen Stellenwert wie der Pioniergeist der Tunnelbaubetreiber, der an den zur gleichen Zeit stattfindenden Bau der Eisenbahn in Nordamerika erinnert. Die Eingeborenen werden zwar nicht ausgerottet, aber auch für sie wird sich das Leben grundlegend verändern, weshalb sie dem Projekt wie auch den Fremden ausgesprochen feindlich gegenüberstehen. Sie haben keinerlei Interesse daran, dass ihr Dorf in gewisser Weise das Tor zur Welt wird, weil die Politiker die Schweiz aus ihrem Gebirgsgefängnis befreien wollen, und spätestens in dieser Hinsicht sind die Parallelen zur Gegenwart verblüffend.
Aber auch die Schilderung der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen kommt nicht zu kurz; die Mineure schlafen und schuften in Schichten. Auf diese Weise wird "Gotthard" auch zu einem filmischen Denkmal für die weit über tausend Menschenleben, die der Tunnelbau gekostet hat. Den zweiten Teil zeigt 3sat nächsten Freitag.