Auf den ersten Blick wirken die vielen Punkte auf den Röntgenbildern wie ein technischer Defekt. Tatsächlich sind es die Schrotkugeln, die noch nach mehr als einem halben Jahr in den Körpern von Milad und Erfan stecken - teils gefährlich nahe an der Halsschlagader. Und selbst die versierten Fachärzte der Mainzer Augenklinik fürchten, dass die beiden jungen Iraner wohl für immer auf einem Auge blind bleiben.
Nach den gewaltsam niedergeschlagenen Protesten sind die beiden Asylbewerber keine Einzelfälle. Sicherheitskräfte hätten Demonstranten gezielt ins Gesicht und den Oberleib geschossen, um sie schwer zu verletzen, sagt der Exil-Iraner Behrouz Asadi: "Es gab so viele Verletzte, über 600 Getötete und 18.000 politische Gefangene. Dort herrscht eine Hinrichtungsregierung." Asadi ist seit Jahrzehnten für die Malteser Werke in der Flüchtlingshilfe aktiv und leitet in Mainz das "Haus der Kulturen". Im Innenhof des Begegnungszentrums bespricht er mit den beiden jungen Iranern die anstehenden, langwierigen Behandlungen.
Während Deutschland und die EU versuchen, sich vor Flüchtlingen aus aller Welt stärker abzuschotten, hat Asadi eine Initiative für ein Aufnahmeprogramm zugunsten verwundeter Teilnehmer der Revolte gestartet. Er wirbt unter anderem dafür, humanitäre Visa an Regimegegner auszustellen, die sich aus dem Iran in die Türkei retten konnten, dort aber keine angemessene medizinische Behandlung erhalten würden. "Es gäbe genug gesetzliche Möglichkeiten, um zu helfen", appelliert er an die politisch Verantwortlichen.
Die landesweiten Proteste gegen das Mullah-Regime waren im September 2022 durch den gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini ausgelöst worden. Die junge Frau war wegen ihres vermeintlich falsch angelegten Kopftuchs von der Sittenpolizei festgenommen worden und starb kurz darauf mutmaßlich an den Folgen erlittener Misshandlungen. Aus örtlichen Protesten erwuchs ein Massenaufstand gegen die Führung des Landes.
Gefahr beim Arztbesuch
Trotz seiner schweren Verletzungen klingt der 34-jährige Milad noch immer euphorisch, wenn er sich an jene Tage erinnert, als das von vielen Iranern verhasste Regime zu kippen schien. "Die Leute hatten überhaupt keine Angst", berichtet er. "Wir dachten, alles würde schnell zusammenbrechen." Er selbst sei auf Social-Media-Kanälen aktiv gewesen, habe regimekritische Parolen an Wände geschrieben. Während einer Kundgebung in seiner Heimatstadt bei Teheran hätten die regierungstreuen Kräfte dann das Feuer eröffnet. "Als ich ins Krankenhaus kam, war dort alles voll, es gab keine Sitzplätze mehr", sagt der Flüchtling. Eine Krankenschwester habe ihm erzählt, 130 verletzte Demonstranten seien innerhalb einer einzigen Nacht in die Klinik gebracht worden. Doch schon bald sei es zu gefährlich geworden, zum Arzt zu gehen, weil der Sicherheitsapparat überall nach Regimegegnern gefahndet habe, schildern die beiden Männer, die sich während ihrer Flucht nach Europa begegneten und wegen ihres ähnlichen Schicksals bis zur Ankunft in Deutschland zusammenblieben.
Der 25 Jahre alte Erfan, der im Iran als Buchhalter arbeitete, zeigt sich weiter kämpferisch. Die Frage, ob er durch die noch immer sieben Kugeln in seinem Kopf, Hals und Oberkörper unter Schmerzen leide, wischt er beiseite: "Wir haben das für unsere Freiheit getan. Wenn du für die Freiheit deines Landes kämpfst, darfst du nicht klagen, dass du Schmerzen hast."
Die beiden Iraner gehen weiter davon aus, dass das iranische Regime dem Untergang geweiht ist - auch, wenn der Protest in den Straßen aktuell erstickt zu sein scheint. Und auch der Mainzer Flüchtlingshelfer Asadi glaubt, noch einmal seine Heimat besuchen zu können, die er seit über 40 Jahren nicht mehr gesehen hat: "Ich habe meine Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie ist verbunden mit diesen jungen Menschen."