Aus Sicht von Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sind einige Ostdeutsche auch mehr als 30 Jahre nach der Wende nicht in der Demokratie angekommen. "Vielleicht sind die irgendwo in der Diktaturverherrlichung hängengeblieben, weil dort jemand anderes für sie alles lösen musste", sagte Göring-Eckardt dem Berliner "Tagesspiegel" am Freitag. Aus Sicht des Leipziger Soziologen und Demokratieforschers Johannes Kiess fehlt es den Ostdeutschen an positiven Demokratieerfahrungen.
Göring-Eckardt sagte, sie habe kein Verständnis für AfD-Wählerinnen und AfD-Wähler, aber sie habe "Verständnis dafür, dass Leute sich überfordert fühlen, deswegen muss man aber keine rechtsradikale Partei wählen". Sie habe auch Verständnis dafür, wenn Menschen sich fragten, warum in der Politik nur gestritten werde. "Dazu tragen wir ja selbst bei", sagte die 57 Jahre alte Thüringerin mit Blick auf den andauernden Streit in der Ampel-Koalition.
Sie und andere seien Ende der 80er Jahre für "Freiheit auf die Straße gegangen". Wer damit nichts anfangen könne, solle sich fragen, wie sein Leben "ohne diese Freiheit" wäre. "Zum Teil wollen sie aber einfach eine starke Führungsperson. Die sagt, wo es hingeht, und wohinter man sich einsortieren kann", sagte Göring-Eckardt.
Der Soziologe Kiess, stellvertretender Direktor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), nicht überall in Ostdeutschland habe sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Demokratie aktiv gelebt werden muss. Die Transformationen in der Nachwendezweit hätten sowohl den wirtschaftlichen als auch den politischen und sozialen Bereich betroffen. Der Institutionenaufbau sei vielfach durch westdeutsche Eliten übernommen worden: "Eine echte Beteiligung der Menschen gab es nach den Runden Tischen aber schnell nicht mehr." In der Fläche fehlten bis heute Verbände- und Parteistrukturen.
Laut einer Umfrage des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts zu Demokratieeinstellungen halten knapp zwei von drei Ostdeutschen es für sinnlos, sich politisch zu engagieren, und mehr als ein Drittel hat den Eindruck, ihre Rechte als Bürger stünden nur auf dem Papier. Kiess plädierte dafür, auch künftig zivilgesellschaftliches Engagement weiter öffentlich zu fördern. Das sei "unverzichtbar, um zumindest einen Grundstock an bürgerschaftlicher und politischer Teilhabe zu erhalten".
Das reiche aber nicht aus, "gerade wenn die Menschen tagtäglich im Arbeitsleben das Gegenteil von Demokratie, Anerkennung und Fairness erfahren". Untersuchungen zeigten, "dass positive Erfahrungen von Mitbestimmung, Anerkennung und Solidarität im Betrieb mit demokratischen Einstellungen zusammenhängen". Insofern seien die Stärkung der Tarifbindung, faire Löhne und die Einbindung der Menschen in Prozesse, die sie unmittelbar betreffen, auf jeden Fall demokratierelevant, sagte Kiess.