"Alles hängt mit allem zusammen" - Wäre Norah Richter noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, würde sie ihre Schlussfolgerungen spätestens jetzt hinterfragen, schließlich ist der Satz das Mantra aller Verschwörungsgläubigen; doch in diesem Moment steckt die Journalistin bereits rettungslos in einer Abwärtsspirale.
Längst ist zur Obsession geworden, was Anfang Juli mit einer Prophezeiung begann. Am 13. August werde sie im Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten, lautete die Weissagung einer Bettlerin: "Aus gutem Grund und freien Stücken". Die Botschaft lässt Norah nicht mehr los, sie beginnt zu recherchieren und findet heraus, dass Grimm offenbar einst der doppelt so alte Freund ihrer Jugendfreundin Valerie war. Das Mädchen hat sich mit 16 Jahren das Leben genommen. Die traumatische Erfahrung begleitet Norah bis heute; und womöglich hat Arthur sie in den Tod getrieben oder gar eigenhändig ermordet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon allein dieser Teil der Geschichte hätte das Zeug zu einem Klassekrimi, aber die sechsteilige Serie "Der Schatten" hat noch viel mehr zu bieten. Das auf dem gleichnamigen Roman von Melanie Raabe basierende Drehbuch von Stefanie Veith und Koautor Michael Comtesse – das Duo hat auch die fesselnden "Auris"-Thriller (2022, RTL) nach der Hörspiel- und Romanreihe von Sebastian Fitzek und Vincent Kliesch adaptiert – bettet die Ereignisse in einen nicht minder faszinierenden Rahmen.
Norah (Deleila Pilasko), um die dreißig, hat in Berlin die Machenschaften einer Mobbing-Agentur angeprangert und daraufhin ihren Job verloren. In Wien will sie bei einem neu gegründeten Magazin von vorn anfangen. Ihr erster Auftrag ist das Porträt eines gleichermaßen berühmten wie berüchtigten Künstlers: Wolfgang Balder (Andreas Pietschmann) hat eine Frau dazu gebracht, sich für ein Projekt das Gesicht mit einem Skalpell zu verunstalten. Es stellt sich raus, dass der Mann unheilbar krank ist und nicht mehr lange zu leben hat; der Artikel soll so etwas wie sein Vermächtnis werden.
Ähnlich wie der Krebs im Körper des Künstlers – der Titel bezieht sich sowohl auf Balders Krankheit wie auch auf Norahs Schuldgefühle – wuchert im Kopf der Journalistin eine fixe Idee: Sie will Grimm (Christoph Luser) des Mordes an Valerie überführen. Sehr zur Freude eines intriganten Kollegen (Aaron Friesz), der ebenfalls scharf auf das Künstlerporträt ist, wird ihre Arbeit zunehmend zweitrangig.
Schließlich steigert sich Norah derart in ihre Besessenheit hinein, dass einem durchaus wohl gesonnenen Polizisten (Karl Fischer) keine andere Wahl bleibt, als sie in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Auch ihre Freunde haben sich von ihr abgewandt; der einzige Mensch, dem sie noch vertrauen kann, ist eine verständnisvolle Nachbarin (Luisa-Céline Gaffron).
Selbst eine stilistisch und handwerklich nicht weiter aus dem Rahmen fallende Umsetzung hätte aus dem vorzüglichen Drehbuch vermutlich eine fesselnde Serie gemacht, aber Nina Vukovics Inszenierung ist mindestens kongenial. Allein die preiswürdige Bildgestaltung ist ein Genuss: Wien erlebt den heißesten Sommer seit Jahren. Kameramann Pascal Schmit hat den Aufnahmen daher einen mediterranen Look gegeben: Die Bilder werden von leicht verblassten Pastelltönen dominiert, als habe die Sonne die Farben verblassen lassen.
Je mehr sich Norahs Suche nach der Wahrheit zur Zwangsvorstellung entwickelt, desto stärker macht ihr die Hitze zu schaffen. Die an Klassiker des Genres erinnernde Musik (Dominik Giesriegl) tut ein Übriges, um die bedauernswerte junge Frau in den Wahn zu treiben.
Für die Schweizerin Deleila Piasko ist die Hauptrolle dieses auch über viereinhalb Stunden nonstop packenden Psychothrillers eine Herausforderung, von der vermutlich jede Schauspielerin ihres Alters träumt. Die facettenreiche Figur umfasst ein Spektrum, das vom anfänglichen demonstrativen Selbstbewusstsein einer ebenso attraktiven wie erfolgreichen Journalistin bis zur kompletten psychischen und physischen Demontage reicht.
Das Drehbuch verrät zwar bereits gegen Ende von Episode drei, dass Norah als Opfer eines teuflischen Komplotts auf Schritt und Trott überwacht wird, aber dieses Wissen erweist sich letztlich als raffinierter Kniff, um die abschließende Folge mit dem Showdown im nächtlichen Prater und einem weiteren Knüller im Epilog umso verblüffender wirken zu lassen.
Piasko war bereits die Attraktion von Leander Haußmanns "Stasikomödie" (2022) und des ARD-Zweiteilers "Das Weiße Haus am Rhein" (2022). Als Fluchthelferin in der Netflix-Serie "Transatlantic" (2023) hat sie die Basis für eine internationale Karriere gelegt; gut möglich, dass ihr der deutschsprachige Raum bald zu klein wird.
Regisseurin Vukovic hat zuletzt mit zwei sehenswerten Krimis auf sich aufmerksam gemacht: "Schutzmaßnahmen" (2023), ein "Tatort" aus Köln, sowie "Am Ende der Worte" (2022), ein fast dokumentarisch gestaltetes Spielfilmporträt einer jungen Polizistin, die nach ihrer Ausbildung mit der rauen Realität konfrontiert wird. ZDFneo zeigt die bereits vor einer Woche gestartete Serie sonntags in Doppelfolgen, alle Episoden stehen in der Mediathek.