Was sagt die evangelische Kirche zur Eurokrise?
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Was hat die evangelische Kirche eigentlich zur Eurokrise zu sagen?
"Die Wirtschaft muss ein Leben in Würde möglich machen!"
Prof. Traugott Jähnichen im Interview über die Sicht der evangelischen Wirtschafts- und Sozialethik auf die Eurokrise
Im Schwerpunkt "Die Eurokrise und wir" beleuchten wir unterschiedliche Ursachen, Folgen und Teilaspekte der momentanen Wirtschafts- und Finanzkrise und mögliche Wege aus ihr. Die Sicht der evangelischen Kirche und ihre Standpunkte bekommen in der öffentlichen Krisendiskussion bislang eher wenig Aufmerksamkeit. Aber worin bestehen diese überhaupt? Was hat die evangelische Wirtschafts- und Sozialethik eigentlich zur Krise zu sagen? Prof. Traugott Jähnichen gibt Antworten auf drängende Fragen.
09.10.2012
evangelisch.de

Die Wirtschaft hat sich in den "Dienst der Menschenwürde" zu stellen - das hat der Kultursoziologe und Ökonom Alexander Rüstow einmal gefordert. Kann denn in der momentanen 'Eurokrise', die auf die 'Schuldenkrise' folgt, der wiederum die 'Finanzkrise' vorausging, davon überhaupt noch die Rede sein?

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Traugott Jähnichen: Grundsätzlich natürlich... ja. Die Wirtschaft muss allerdings gut funktionieren, um im Dienst der Menschen zu stehen. Das heißt ja für die meisten Menschen, einen Arbeitsplatz zu haben, der ihnen ein gewisses Einkommen sichert, mit dem sie, wenn wiederum die Geldwertstabilität einigermaßen gesichert ist, haushalten und auch für die Zukunft planen können. Die genannten Krisen führen aber gerade dazu, dass in vielen europäischen Ländern die Arbeitslosenquoten, insbesondere bei Jugendlichen in Südeuropa, enorm ansteigen und so einer großen Zahl von Menschen sozusagen die Zukunft verweigert wird. Gerade die Jugendarbeitslosigkeit ist für mich sozialethisch ein riesiger Skandal, die Verarmungsprozesse, die damit einher gehen, kommen noch dazu. Das heißt: Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert, ist eine Lebensführung der Menschen in Würde und Selbstbestimmung ganz radikal in Frage gestellt.

In der Diskussion um Ursachen und vor allem Folgen der Eurokrise hat man ein bisschen den Eindruck, dass die Sicht der evangelischen Kirche und ihrer Sozialethik nicht so recht zur Geltung kommt. Liegt das vielleicht daran, dass sie ihre Stimme auch nicht entschieden genug erhebt?

Jähnichen: Es gab zumindest einige Äußerungen des EKD-Ratsvorsitzenden Schneider, der immer wieder mit Nachdruck im Hinblick auf die Länder Südeuropas eine soziale Balance eingefordert hat. Aber ein Problem ist natürlich, dass es eigentlich keinen eindeutigen Weg aus dieser Krise gibt. Den Schlüssel zur Lösung aller Probleme hat, soweit ich sehen kann, keine gesellschaftliche Gruppe - und eben auch nicht die Kirche. Und von daher sind wir jetzt eher dabei, uns 'durchzuwurschteln' und angesichts der Komplexität der Herausforderungen überhaupt nach Orientierungen zu suchen.

"Wer behauptet, dass es die eine Antwort zur Beendigung der Krise gibt, ist mit ziemlicher Sicherheit ein Hochstapler"

Gibt es denn dann überhaupt so etwas wie eine einheitliche Position einer evangelischen Wirtschafts- und Sozialethik?

Jähnichen: Es gibt zumindest verschiedene Ansätze, wie man das Problem lösen kann - zum Beispiel, wie man Schuldnerländer stabilisiert und durch verschiedene Reformansätze die Wirtschaft in Europa insgesamt wieder in ein stärkeres Gleichgewicht bringt. Das wird auch in verschiedenen Stellungnahmen von Sozialethik-Experten und vom Rat der EKD angemahnt und eingefordert. Aber wie bereits gesagt: Die eine Antwort zur Beendigung der Krise gibt es einfach nicht. Wer das behauptet, ist mit ziemlicher Sicherheit ein Hochstapler.

Wie sieht es denn dann mit der Bewertung von verschiedenen Ansätzen oder Instrumenten aus? Gerade auch aus kirchlichen Kreisen wird zum Beispiel immer wieder die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gefordert. Wäre das ein geeignetes Mittel, die Krise zu bekämpfen?

Jähnichen: Das wird nicht die große Lösung sein, einfach, weil nicht alle Länder weltweit mitziehen werden. Schon in Europa zum Beispiel wäre Großbritannien bei einer Einführung einer solchen Transaktionssteuer wohl nicht dabei. So könnte dieses Instrument natürlich umgangen werden und man hätte nur einen geringen Effekt. Dass allerdings die Finanztransaktionssteuer durchaus grundsätzlich sinnvoll ist, um bestimmte kurzfristige Spekulationen zu unterbinden - und dass sie natürlich auch Geld in die Staatskassen spülen würde, das halte ich schon für plausibel. Insofern wäre sie zumindest ein kleiner Baustein zur Lösung des Problems.

"Dass Steuern legitim sind, ist ein theologisch gut begründeter Grundsatz"

Und wie sieht es mit der Forderung aus, dass die, denen viel gegeben ist, auch viel abgeben sollen - also zum Beispiel eine Vermögensabgabe für hohe Vermögen oder eine 'Reichensteuer' - um damit eventuell Schulden zu tilgen?

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Jähnichen: Zunächst einmal wären wir schon einen großen Schritt weiter, wenn die gesetzlich vorgesehenen Steuern auch eingetrieben werden könnten, und zwar nicht nur in Griechenland oder anderen südeuropäischen Ländern. Auch in der Bundesrepublik gibt es ja immer noch einen hohen Anteil an Steuerhinterziehung oder Steuerflucht, nicht zuletzt auch an Schwarzarbeit. Dass Steuern legitim sind, ist ja auch ein theologisch gut begründeter Grundsatz. Dies ist in der Bibel tief verankert und auch schon im Alten Testament belegt, wenn zum Beispiel der "Zehnte" jedes dritte Jahr für die Armen ausgegeben werden soll. Also, Steuerehrlichkeit und das nachhaltige Eintreiben von Steuern sind der erste Schritt. Der nächste Schritt ist, darüber nachzudenken, ob und wie Vermögende in besonderer Weise zu besteuern sind. Die Wiedereinführung der in Deutschland ausgesetzten Vermögenssteuer wäre aus meiner Sicht sehr plausibel und gut begründbar.

Darüber hinaus eine besondere "Reichensteuer" einzuführen, halte ich für schwierig zu begründen, höchstens als einmalige Maßnahme, sozusagen als "Notstands-Abgabe". Aber auch hier wäre überdies eine größtmögliche Vereinheitlichung in der EU notwendig, damit die 'Reichen' nicht einfach in andere Länder abwandern. Schaut man ferner darauf, dass ja gerade die Besserverdienenden von den deutschen Standards und der hiesigen Infrastruktur profitieren, könnte man sicherlich entschiedener darüber nachdenken, etwa die Grundbesitzabgaben oder die in Deutschland im Vergleich relativ niedrige Erbschaftssteuer zu erhöhen.

Auch aus dem Alten Testament stammt ja die jüdisch-christliche Tradition des Schuldenerlasses. Da gab es nun in der Krise kürzlich erste Schritte mit Schuldenschnitten. Wäre ein echter Schuldenerlass denn ein probates Mittel in der Krise?

Jähnichen: Grundsätzlich soll laut Bibel der Schuldenerlass ja in einem bestimmten Rhythmus statt finden, nämlich alle sieben Jahre. Aber auch damals gab es schon Beobachtungen, dass die Neigung, Kredite zu geben, schwand, je näher das Schuldenerlassdatum rückte. Deshalb schuf man dort auch schon Ausgleichsmechanismen. Das heißt, übertragen auf die heutige Situation: Die Gefahr besteht, dass ein Land, das von einem Schuldenschnitt profitiert, im Anschluss umso schwerer neue Kredite bekommt. Ein Schuldenschnitt muss also immer mit bestimmten Reformprogrammen verbunden sein, die dem entsprechenden Land wieder auf die Beine helfen - denn sonst ist das ein Fass ohne Boden. In der Bibel hatte der Schuldenerlass sehr viel mit Missernten zu tun: Er sollte, in Verbindung mit - im Idealfall zinslosen - Krediten, den Betroffenen helfen, solche Krisensituationen zu überstehen. Die Idee hinter diesen Regelungen ist das "Recht auf einen Neuanfang". Und das wäre aus meiner Sicht auch eine ganz grundlegende Perspektive für Länder wie Griechenland. Sie brauchen die Chance auf einen Neuanfang!

"Zinsen können legitim sein - nicht aber, wenn sie Arme immer weiter in eine Abwärtsspirale hinein ziehen"

Sie haben es eben kurz erwähnt: In der Bibel gibt es auch die Praxis der Zinsfreiheit. Wäre eine Rückkehr zu diesem Prinzip nicht noch einmal nachdenkenswert?

Jähnichen: In der Bibel gilt die Zinsfreiheit vor allen Dingen für die 'Armen'. In der Kirchengeschichte gab es später dann ergänzend den Bezug auf Aristoteles, der sinngemäß gesagt hat, dass Zinsen wider die Natur seien, weil Geld an sich unfruchtbar sei. Das hat dann zu dem lange Zeit gültigen Zinsverbot geführt. Der erste, der meiner Meinung nach eine grundlegend andere Perspektive aufgezeigt hat, war der Genfer Reformator Calvin. Er hat Zinsen durchaus gebilligt, wenn es sich um Beteiligungen an besonders lukrativen Geschäften gehandelt hat - allerdings nicht in astronomischen Höhen, sondern mit klar definierten Obergrenzen. Es war für ihn eine Frage der Gerechtigkeit, dass der Geldgeber auch an den Erträgen beteiligt wird. Insofern können Zinsen durchaus legitim sein - nicht aber, wenn sie Arme, auch arme Staaten, immer weiter in eine Abwärtsspirale hinein ziehen. Dann muss es zumindest Ausgleichsmechanismen geben.

Vielleicht könnte man in Zukunft aber auch noch einmal über den Vorschlag des alternativen Finanztheoretikers Silvio Gesell nachdenken, der in den 1920er Jahren so etwas wie "negative Zinsen" ins Gespräch gebracht hat. Bereits heute, wo der Leitzins so stark abgesenkt ist, dass das Geld faktisch seine klassische Funktion als Wertaufbewahrungsmittel einbüßt, sind wir nahe an einem solchen Modell: Geld verliert an Wert, wenn es lediglich aufbewahrt und nicht investiert wird! Bei den meisten Girokonten, Sparbüchern und Tagesgeldern ist das auf Grund der momentanen Zinsentwicklung und der Inflationsrate ja sogar schon der Fall. Auf diese Weise könnte die Finanzwirtschaft wieder besser ihrem eigentlichen Zweck näher gebracht werden, nämlich der Realwirtschaft zu dienen. Die von der Realwirtschaft losgelösten Prozesse in der Finanzwirtschaft sind aus meiner Sicht das Hauptproblem. Hier müsste noch stärker reguliert werden. Das gilt ferner für den Bankensektor, wo es zumindest ein echtes Haftungsprinzip geben müsste, damit Banken bankrott gehen können, ohne dass das riesige negative Auswirkungen auf alle Bereiche hat.

Könnte man denn aus wirtschaftsethischer Sicht vielleicht so etwas wie einen "dritten Weg" entwerfen - also auch alternative, utopische Wirtschaftsmodelle ins Gespräch bringen?

Jähnichen: Eine große Alternative ist schwer vorstellbar, aber was wir sicherlich benötigen, sind neue Bewertungsmaßstäbe für öffentlichen Wohlstand - jenseits und in Ergänzung des Bruttosozialprodukts. Mein Vorschlag: Die Politik müsste sich, außer am Bruttosozialprodukt, gleichrangig an weiteren Indikatoren ausrichten. Das müssten mindestens zwei weitere sein - erstens: Ein Indikator für Verteilungsgerechtigkeit, an dem sich die Zu- oder Abnahme von sozialer Ungleichheit ablesen lässt. Und zweitens: Ein Indikator für den Naturverbrauch, der auf Nachhaltigkeit abzielt. Die Politik müsste dann in Zukunft bei der wirtschaftspolitischen Kursbestimmung nicht mehr nur auf ein Instrument schauen, sondern - wie beim Fliegen beispielsweise - mehrere Instrumente gleichzeitig und gleichrangig in den Blick nehmen und dabei für eine Balance sorgen.

"Die Kirche muss vehement Chancen für die Benachteiligten einfordern"

Inwieweit sollte sich die Kirche da aus Ihrer Sicht engagieren, um ein mehr an der Menschenwürde orientiertes wirtschaftliches Handeln einzufordern?

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Jähnichen: Ich denke, dies ist eine ganz wesentliche Aufgabe der Kirche: Dass sie als ein maßgeblicher Akteur der Zivilgesellschaft immer wieder auf gesellschaftliche Grundfragen aufmerksam macht und aus der biblischen Perspektive Maßstäbe etwa für mehr 'Gerechtigkeit' und 'Bewahrung der Schöpfung' einfordert. Das hat sie ja in den letzten Jahren auch schon mit verschiedenen Veröffentlichungen getan, mit Nachdruck zum Beispiel durch die Denkschrift "Gerechte Teilhabe". Dabei sollten die Kirchen, wie es im berühmten "Sozialwort der Kirchen" von 1997 gesagt wurde, nicht unbedingt "direkt" Politik betreiben. Aber das Aufwerfen der gesellschaftspolitischen Grundfragen gehört meiner Meinung nach einfach zum Verkündigungsauftrag der Kirche dazu. Denn es ist ja so: Würde man alle Texte mit sozialen Themen aus der Bibel herausstreichen, würde nur noch ein Restbestand an Texten übrig bleiben. Es geht in der Bibel sehr häufig um Gerechtigkeit und das, was wir heute als ein "Leben in Würde" bezeichnen - dies ist ein Kernelement der biblischen Botschaft. Dementsprechend muss die Kirche heute unter veränderten, komplexeren Bedingungen von dieser Tradition Zeugnis ablegen und vehement Chancen für die Benachteiligten einfordern.