Julia Ratzmann ist Leiterin der Pazifik-Informationsstelle des Partnerschaftszentrum der bayerischen evangelischen Kirche, Mission EineWelt. In diesem Frühjahr wollte sie "mal alles hinter mir lassen". Sie wollte aus ihrem Alltag hinaustreten, nicht darüber nachdenken, ob die Kinder nun ein frisches T-Shirt anziehen oder nicht, ob die Waschmaschine fertig ist und ob die Milch im Kühlschrank noch für morgen reicht.
"Ich will gerne meine Grenzen kennenlernen, sowohl meine körperlichen, als auch meine psychischen", erklärt die 51-Jährige, weshalb sie sich für eine Auszeit zwei Wochen per Rad an der Ostsee entschieden hat. Etwas von Deutschland kennenlernen und buchstäblich in Bewegung kommen: "Wenn sich der Körper bewegt, bewegt sich meiner Erfahrung nach auch ganz viel im Kopf".
Diese Zeit bewilligt zu bekommen, sei nicht schwer gewesen, erklärt sie. Eine Voraussetzung für die Bewilligung ist ein psychologisches Gespräch mit einer ausgebildeten Psychotherapeutin oder einem Psychologen, sagt Andreas Weigelt, der für sogenannte Salutogenese-Maßnahmen in der Landeskirche zuständig ist. "Im Grund bekommt jeder, der sie beantragt, eine solche Auszeit, wenn er die Regeln einhält." Der Wunsch nach einer spirituellen Pause müsse da sein, bezahlter Extra-Urlaub soll die Zeit nicht sein, erläutert Weigelt.
Wer die Auszeit nimmt, zu der jede und jeder Beschäftigte in der evangelischen Landeskirche das Recht hat, muss sich nicht unbedingt sportlich betätigen. In einer Ferienwohnung am Meer oder in den Bergen kann man sie verbringen, im Haus "Respiratio" auf dem Schwanberg oder bei einer Kneippkur in Bad Wörishofen. Wichtig ist eine geistliche Begleitung.
"Ich habe diese Auszeit als eine einzige große Meditation empfunden", sagt Julia Ratzmann. Gleich am ersten Tag war sie nach einer knappen Stunde Fahrt an einem menschenleeren Strand angekommen. "Da habe ich mich einfach hingesetzt, aufs Meer geschaut, den weißen Sand durch meine Hände rieseln lassen und hab' gedacht: So, jetzt ist die Zeit - weg aus dem Alltag."
Aber Ratzmann hat auch erlebt, dass es jenseits des eingeschliffenen Alltags Situationen gibt, in denen man an seine Grenzen gehen muss. An einem der Tage sei der Wind so stark gewesen, dass sie es trotz E-Bike und vollem Speed nicht mehr vorwärts schaffte. "Ich bin einfach runtergefallen und lag da mit Gepäck und Rad. Das Wetter war wunderschön, Sonnenschein, blauer Himmel, das Meer kräuselte sich, aber dieser Wind kommt immer aus der falschen Richtung."
Anstrengend kann auch der spirituelle Teil des "Durchschnaufens" sein. Mit einem pensionierten Pfarrer aus ihrer Heimat-Kirche in Westfalen hat sich die studierte Ethnologin täglich eine Stunde lang online getroffen oder telefoniert. Der Tag wurde reflektiert oder über Lebensthemen gesprochen, wie dem Umgang mit Sterben und Tod, den beruflichen Anforderungen, familiäre Probleme. "Die Gespräche wirken noch nach. Es ist halt doch was anderes, wenn du von außen jemanden auf dein Leben schauen lässt, weil die Fragen meines Begleiters schon sehr an die Substanz gingen."
Wunderbare Menschen habe sie kennengelernt, sei durch Orte gekommen, in die man nie mit dem Auto gefahren wäre, sie habe die Natur beobachtet, sich manchmal einfach fünf Minuten hingesetzt und aufs Meer geschaut. Für jemand, der nicht alleine sein kann, ist eine solche Auszeit nichts, meint Julia Ratzmann. "Dieses ganz auf sich geworfen sein, diese Konzentration auf sich muss man aushalten können."
50 bis 70 Beschäftigte der Landeskirche nehmen jährlich an "Durchschnaufen" oder einem anderen Auszeit-Angebot teil, sagt Weigelt. Alle Berufsgruppen sind dabei: Pfarrer:innen ebenso wie Verwaltungskräfte oder der Fahrer einer Regionalbischöfin und der Koch aus einem Tagungszentrum. Anders als in anderen Unternehmen müssen die Beschäftigten diese Auszeit nicht selbst finanzieren oder ansparen. Sie bekommen noch Unkosten von 62 Euro pro Tag erstattet. 50.000 bis 70.000 Euro nehme die Landeskirche für das Angebot jährlich in die Hand, erläutert Weigelt. "Ein geringer Betrag, wenn man bedenkt, was für ein Segen dabei herauskommt." Die Teilnehmer:innen seien nach ihrer Auszeit motiviert und dankbar.