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11. Juni, ARD, 20:15 Uhr
TV-Tipp: "Polizeiruf: Paranoia"
"Auch der Paranoiker hat Feinde", stellt Bessie Eyckhoff schließlich fest, als ihr dämmert, dass sie dabei ist, sich mit mächtigen Gegenspielern anzulegen: "Da läuft was Größeres." Das können sie und der Kollege Eden von der Münchener Kripo (Verena Altenberger, Stephan Zinner) zunächst noch nicht ahnen, als sie zu einem Tatort gerufen werden: Ein Imbissmitarbeiter ist erstochen worden.

Laut Aussage eines Zeugen trug der Mörder Schuhe mit auffallend roten Schnürsenkeln. Filmisch zur gleichen Zeit fährt ein Rettungswagen bei einem eingerüsteten Haus vor. Ein Nachbar von gegenüber hat beobachtet, wie eine Frau überfallen wurde. Als das Notfallteam die Treppe hoch eilt, gerät Sanitäter Carlo (Timocin Ziegler) ins Straucheln, sodass Kollegin Sarah (Marta Kizyma) allein beim Opfer eintrifft. Der Täter entkommt über das Gerüst. Das einzige, was sie von ihm gesehen hat, sind die roten Schnürsenkel. 

Natürlich sind die beiden Taten zwei Seiten derselben Medaille, das ist im Sonntagskrimi immer so, auch wenn es auf den ersten Blick keinerlei Verbindung zwischen der lebensgefährlich verletzten Kerstin Schnabel und dem Mann mit den türkischen Wurzeln gibt. Erst recht zum Rätsel wird der Fall, als sich Sarah am nächsten Tag in der Klinik nach dem Zustand des Opfers erkundigen will: Laut Computer ist in der Nacht niemand dieses Namens eingeliefert worden; das Protokoll der Leitstelle verzeichnet einen Fehlalarm.

Dass die Sanitäterin überzeugt ist, von einem dunklen SUV beschattet zu werden, steigert ihre Verwirrung noch; der Wagen ist ihr schon während der Fahrt ins Krankenhaus aufgefallen. Aber womöglich sieht sie auch Gespenster: Sarah ist völlig durch den Wind, seit sich Carlo kürzlich von ihr getrennt hat.

Kein Hirngespinst ist jedoch die Videokassette, die ihr die Frau anscheinend mit letzter Kraft in den Notfallrucksack gesteckt hat. Die Aufnahme zeigt einen zellenartigen Raum. Ein Mann ist an einen Stuhl gefesselt, über seinen Kopf ist ein Sack gestülpt, ein Arzt macht sich an ihm zu schaffen. Sarah kennt den Doktor: Er ist der Leiter der Notaufnahme jener Klinik, in die sie Kerstin Schnabel gebracht hat. Eigentlich war sie bereits auf dem Weg zu einem anderen Krankenhaus, aber die Leitstelle hat sie zu einem neuen Ziel beordert. Als die Leiche der Frau gefunden wird und angebliche Kripokollegen die Wohnungen der Mordopfer durchsuchen, glaubt auch Eyckhoff, dass da "was Größeres" läuft; und das ist noch untertrieben. 

Autor dieses "Polizeirufs" ist Martin Maurer, doch die Meriten für die faszinierende und jederzeit fesselnde Handlung, die bis zu den New Yorker Attentaten vom 11. September 2001 zurückreicht und in die offenbar auch der BND verstrickt ist, gebühren zu mindestens ebenso großen Teilen dem im Dezember 2020 verstorbenen Claus Cornelius Fischer. Maurer stand vor der Herausforderung, die Vorlage des Kollegen in ein Drehbuch zu verwandeln, das Fischers Ideen und vor allem seinem Humor gerecht wird.

Tatsächlich verblüfft "Paranoia" immer wieder durch überraschende Elemente: hier ein witziger Dialog Eyckhoffs mit dem Zeugen aus dem Imbiss, der als kleinwüchsiger Mitarbeiter ausgerechnet dafür zuständig ist, Vorräte in hohen Regalen zu verstauen, dort eine Begegnung der Oberkommissarin mit einem intelligenten Mähroboter, der schamhaft errötet, als sie mit ihm flirtet.

Gegenstück sind Szenen wie jene, als sie bei der Verfolgung eines Verdächtigen beinahe vom Gerüst stürzt und einhändig über dem Abgrund baumelt; als sie den Tod vor Augen hat, fliegt aus der schwarzen Tiefe des Raumes ein gelbgrüner Toaster auf sie zu, der ihr zuvor in der Wohnung des zwischenzeitlich gleichfalls erstochenen Carlo aufgefallen ist. 

Die "Tatort"-Krimis von Tobias Ineichen, ganz gleich, ob aus Luzern oder aus Zürich, waren oftmals allzu spannungsarm, aber Bessie Eyckhoffs sechster und zugleich letzter Fall hat auch dank der Umsetzung und nicht zuletzt aufgrund der treibenden elektronischen Musik (Marius Ruhland) keinerlei Leerlauf.

Das zudem durch einen kleinen Besetzungsknüller erfreuende Finale ist ein optischer Genuss: Ineichen und Kameramann Michael Saxer haben die Szenerie in ein ganz besonderes Licht getaucht. Eine echte Entdeckung ist Episodenhauptdarstellerin Marta Kizyma, die Sarah sehr überzeugend und höchst intensiv als Frau neben der Spur verkörpert. Das Ende wird möglicherweise viele Krimifans enttäuschen; trotzdem ist "Paranoia" ein würdiger Abschluss für die kurze, aber sehr einprägsame Ära Eyckhoff beim "Polizeiruf" aus München.