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Christus-Statue in Rio de Janeiro: Die Konferenz in Brasilien lässt sich von Gottes Wort inspirieren.
"Jetzt helfe euer Überfluss ihrem Mangel ab"
Was die Kirchen zu einer gerechteren Weltwirtschaft beitragen können
Was haben die Kirchen zu den weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrisen zu sagen? Rund 70 evangelische Christen aus aller Welt sitzen seit Sonntag in Sao Paolo zusammen, um Antworten zu suchen. Sie wünschen sich neue, gerechte Regeln für die Wirtschaftspolitik. Veranstalter der Konferenz ist der Ökumenische Rat der Kirchen (WCC) zusammen mit der Weltgemeinschaft der Reformierten Kirchen (WCRC). Dr. Ulrich Möller, Oberkirchenrat bei der Evangelischen Kirche von Westfalen, hat das Treffen in Brasilien ins Leben gerufen.
05.10.2012
evangelisch.de

Auf dem Programm stehen Bibelarbeiten, Gottesdienste und Fachvorträge zu Wirtschaftspolitik. Wie passt das zusammen?

Ulrich Möller: Das passt gut zusammen, denn die Bibel zeigt uns ja: Gott ist in besonderer Weise an der Seite der Armen, der Niedergedrückten, der Ausgegrenzten. Und das ist eben nicht ohne Folgen für die Perspektive, von der aus wir Kirchen Stellung nehmen zu diesen aktuellen Fragen. Und daraus, nicht aus politischen Programmen, schöpfen wir als Christinnen und Christen unsere Hoffnung und Inspiration. Darum steht am Beginn des Konferenztages ein Gottesdienst. Gemeinsam hören die Delegierten auf Gottes Wort, auf seine Verheißung, auf Gottes gute Weisung.

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Wie hängt das nun mit den Vorträgen aus der Weltfinanzwirtschaftskrise zusammen? Das möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Im 2. Buch Mose Kapitel 16 wird berichtet, wie Gott sein Volk auf der Wanderung durch die Wüste mit dem Lebensnotwendigen versorgt. Jeden Tag bekommen die Menschen das zum Leben Notwendige: "Manna" – tägliches Brot vom Himmel. Jeder sammelt soviel er braucht. Gott sorgt dafür, dass keiner auf Kosten der anderen etwas anhäuft. Und als das doch einige versuchen, verfault das Zeug und sie haben nichts davon.

Paulus bezieht sich im 2. Korintherbrief Kapitel 8,13-15 genau darauf, als er die Gemeinde ermahnt: "Nicht, dass die andern gute Tage haben sollen und ihr Not leidet, sondern dass es zu einem Ausgleich komme. Jetzt helfe euer Überfluss ihrem Mangel ab, damit danach auch ihr Überfluss eurem Mangel abhelfe und so ein Ausgleich geschehe." Dieses biblische Vision des Ausgleichs mit dem Ziel, dass ALLE genug zu einem Leben in Würde haben, steht in krassem Gegensatz zu dem, was wir heute erleben: In der Finanzkrise sind die Superreichen auf der Welt noch reicher geworden, und die Staaten haften für die Spekulationsfolgen der entfesselten Finanzwirtschaft. Die Staatsverschuldung ist in eine unfassbare Höhe gestiegen und wieder sind die Armen die Hauptleidtragenden.

"In der Finanzkrise sind die Superreichen noch reicher geworden"

Es gibt genug auf der Welt für die Bedürfnisse aller. Aber nicht genug für jedermanns Gier. Wenn aber Gott will, dass alle Menschen genug zum Leben haben, dann müssen wir uns ja fragen: Was bedeutet das für eine Wirtschaft im Dienste des Lebens heute? Welche Grenzen müssen der Gewinnmaximierung gesetzt werden, damit alle Menschen genug haben, und wie sollte das geschehen? Und das führt uns natürlich zu einer bestimmten Grundperspektive, aus der heraus wir als Kirchen weltweit uns fragen: Wie müssten eigentlich die ethischen Kriterien für eine nachhaltige Weltfinanz- und Wirtschaftsordnung aussehen? So hängt beides zusammen: Die biblische Verheißungsperspektive und die Fachgespräche, zu denen wir Experten eingeladen haben.

Es geht also um eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Wo sehen Sie die größten und die drängendsten Probleme?

Möller: Wir erleben, dass wir eine enorme Verschuldungsproblematik haben - die private Verschuldung ist weitaus größer als die staatliche. Unter dem Stichwort, dass Banken "systemrelevant" sind und gerettet werden müssen, springen Staaten ein für Ursachen, die eigentlich nicht aus der Allgemeinheit heraus entstanden sind, sondern dadurch, dass sich dieser Finanzsektor verselbständigt hat und mit der Realwirtschaft eigentlich kaum noch was zu tun hat. Wenn in einer Sekunde Millionen von Kaufentscheidungen von Computern zu rein spekulativen Zwecken an der Börse gemacht werden und das entscheidet darüber, ob Währungen abfallen oder ansteigen, dann ist da was außer Rand und Band gegangen, das wieder eingefangen werden muss. Gleichzeitig ist das aber nur ein aktueller Ausschnitt aus der Gesamtkrise, in der wir uns befinden. Das Stichwort Klimawandel spielt da eine große Rolle, denn wir merken doch (selbst wenn die Finanzmärkte wieder einzufangen sind) unsere heutige Lebens- und Wirtschaftsweise ist nicht nachhaltig. Wir können nicht so weiter leben, wie wir jetzt leben, das wissen wir alle.

"Was die Menschen zum Leben brauchen, ist zum Spekulationsobjekt geworden"

Was steht zum Stichwort "Verschuldung" in der Bibel?

Möller: Zum Beispiel das sogenannte Erlassjahr oder das "Jubeljahr", dass also Menschen sich nicht grenzenlos überschulden können, sondern dass die Anrechte der Gläubiger nach einer gewissen Zeit verfallen, damit die Menschen wieder von vorne anfangen können. Weil Gott will, dass alle Menschen leben und nicht, dass Menschen durch Überschuldung ihrer Lebensperspektive beraubt werden. Es gab ja damals Schuldknechtschaft. Unsere Geschwister aus dem Süden sagen: Genau das erleben wir, dass wir in so einer Art Schuldknechtschaft sind. Jetzt sehen wir es sogar in den Ländern des Nordens, wo eine Verschuldung in so wahnsinniger Höhe bedient werden muss, dass es die Kraft von Staaten übersteigt. Wir erleben in Griechenland und in Spanien, was es bedeutet, wenn unter der Jugend auf einmal mehr als 50 Prozent Arbeitslosigkeit ist. Millionen Menschen, die die Krise nicht verursacht haben, werden ihrer Lebenschancen beraubt. Und die Verursacher der Krise und Profiteure ungezügelter Finanzmärkte bringen ihr Schäfchen ins Trockene.

Sie suchen auf der Konferenz gemeinsam nach Lösungen. Gab es bisher ein Thema, von dem Sie selbst überrascht waren, bei dem Sie etwas neues gelernt haben?

Möller: Professorin Tourres aus Malaysia hielt ihren Vortrag zum Thema: "Wie können Finanzströme so reguliert werden, dass sie nachhaltiger Entwicklung dienen und Spekulation eingedämmt wird?" Spekulation: Jeder denkt da natürlich an die Finanzmärkte. Das ist aber im Augenblick gar nicht der Bereich, in dem die höchsten Spekulationsgewinne gemacht werden. Das ist vielmehr die Spekulation an den Rohstoff- und Nahrungsmittelbörsen. Nachweislich folgen die Preisbewegungen auf den Rohstoffmärkten denen auf den reinen Finanzmärkten. Und das bringt deutlich auf den Punkt: Was die Menschen zum Leben brauchen, das ist im höchsten Maß zum Spekulationsobjekt geworden. Der Börsenhändler, der heute mit Millionen von Käufen und Verkäufen von Nahrungsmitteln pro Sekunde an den Börsen Spekulationsgewinne einfährt, entscheidet damit zugleich darüber, ob Menschen verhungern oder ob sie genug zu essen haben.

Und das zweite, was ich ganz überraschend fand: In vielen Ländern sind die Armen, die es sich eigentlich gar nicht leisten können, diejenigen, die in hohem Maße spielsüchtig sind, oft aus Verzweiflung. Sie denken: "Ich kann sowieso nicht mit dem, was ich arbeite, für meine Familie sorgen. Meine einzige Chance ist, dass ich jetzt im Lotto gewinne..."

Interessant: Die Menschen wiederholten praktisch im Kleinen für sich das, was global an Spekulationen stattfindet - was ja auch so eine Art Spiel ist.

Möller: Genau, und das zeigt, wie das Bewusstsein der Menschen überfremdet wird. Statt dass sie sich dafür einsetzen, wie sie zu ihren Rechten kommen - dafür haben sie offensichtlich häufig gar nicht mehr den Ansatzpunkt - kommen sie dann zu solchen abgeleiteten Reaktionen, die im Kleinen dem Zocken an der Wallstreet entspricht.

"Es geht nicht um große Stapel von Papier"

Kann man auf der Konferenz schon Ergebnisse fassen, wie man jetzt weitermachen kann - außer dass man große Stapel von Papier produziert?

Möller: Es geht nicht um große Stapel von Papier. Das Abschlussdokument hat drei Teile: Zuerst wird in ziemlich radikaler Parteinahme aus der Perspektive der Opfer des Weltfinanzsystems begründet, warum wir uns als Kirchen weltweit ein für eine Transformation einsetzen. Hier wird deutlich kritisiert, was kritisiert werden muss. Die Suche nach Alternativen muss sich auch speisen aus den Erfahrungen derer, die heute an den Rand gedrängt sind. Dabei haben die Vertreter der Kirchen des Südens auf einer radikalen Sprache bestanden, die für viele von uns gewöhnungsbedürftig ist. Und auch das gehört zur weltweiten Ökumene - dass wir das aushalten. Denn für unsere Geschwister im Süden ist es auch eine Zumutung, dass wir im Norden heute sagen: "Wir haben die größte Finanzkrise aller Zeiten, jetzt müssen wir handeln!" Das finden viele im Süden fast zynisch. Sie antworten: "Ja, jetzt erfahrt ihr auch, was eine Krise ist, das haben wir in den letzten Jahrzehnten in unseren Ländern permanent erfahren und darunter gelitten und euch hat es aber relativ kalt gelassen." Das ist für uns heilsam. Man wird ein bisschen demütiger in der Begegnung mit unseren Geschwistern aus dem Süden.

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Und dann hat das Dokument den aus meiner Sicht entscheidenden zweiten Teil. Eine ökumenische Landkarte für die in nächster Zeit notwendigen globalen Transformationen. Besondere Priorität: den Finanzsektor effektiv regulieren und der destabilisierenden Spekulation einen Riegel vorschieben – regional wie global. Die Kirchen wollen zusammen mit den Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft öffentlichen Druck herstellen, damit sich wirklich etwas ändert, solange noch Zeit ist. Ein Beispiel nur: die Frage der Steuern auf Spekulationsgewinne. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass alle Arbeit und alle Leistung, die in der Realwirtschaft erbracht wird, mit Steuern belegt wird, und ausgerechnet das, was das System am meisten instabil macht, nämlich Spekulationsgewinne, die werden faktisch weitgehend steuerfrei belassen.

"Viele Politiker suchen ausdrücklich danach, mit den Kirchen ins Gespräch zu bringen"

Ein Kernproblem besteht außerdem darin, dass die Weltwirtschaft und das internationale Finanzsystem sich globalisiert haben - aber die demokratischen Institutionen nicht. Wir Menschen und Nationen haben ganz wesentlich unsere Souveränität über unser Leben, die Erde und die Zukunft verloren. Deshalb ist es so entscheidend, das Primat demokratischer Verantwortlichkeit und Aufsicht über die Finanzmärkte zurück zu gewinnen. Das geht nicht ohne Veränderungen der globalen Institutionen. Einer unserer Vorschläge ist, eine Finanzreserve aufzubauen, die nicht dollarbasiert ist, sondern verschiedene Währungen einschließt und die bestimmte Rechte der Länder mit beinhaltet, damit man weniger von der Spekulation abhängig ist. Ein Problem ist ja, dass die Leitwährung - die US-Währung - von dem Land ausgegeben wird, das sich am höchsten in der ganzen Welt verschuldet hat. Dagegen ist Griechenland eine Kleinigkeit.

Natürlich funktioniert es nicht so, dass wir von der Konferenz jetzt Einzelvorschläge machen und dann stimmen alle zu und wir retten die Welt. So naiv und vermessen sind wir natürlich nicht. Wir haben als Kirchen in aller Bescheidenheit unsere Rolle darin, die biblisch begründete Grundperspektiven und ethischen Kriterien in die öffentliche Debatte einzubringen. Dazu soll nun eine globale ökumenische Kommission von Fachleuten aus Kirchen, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ins Leben gerufen werden. Vielleicht ein Kreis von Zwölfen, wie seinerzeit die Jünger Jesu.

Wenn Sie dieses Abschlussdokument schreiben - wer soll das lesen? Denken Sie, dass die Stimme der Kirche überhaupt von relevanten Personen oder Institutionen wahrgenommen wird?

Möller: Dieses Dokument ist zum einen nach innen in den weiteren ökumenischen Prozess gerichtet - zur nächsten Vollversammlung des ÖRK und auch in den Regionen unserer Mitgliedskirchen in der Welt - um zu sehen, wie wir uns abstimmen können. Das andere ist, dass wir spüren - auch in Deutschland - viele Politiker suchen ausdrücklich danach, mit den Kirchen ins Gespräch zu kommen darüber, was eigentlich die ethischen Grundkriterien sind, von denen sie sich leiten lassen sollen. Sie erleben ja selber, dass alles so außer Rand und Band ist, dass es nicht geht.

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Und das gilt auch auf der internationalen Ebene. Die Wirtschaft ist ja nicht ein Selbstzweck sondern ein Instrument um Bedürfnisse in der Gesellschaft möglichst gut zu erfüllen. Viele Politiker wachen auf und merken, wie ohnmächtig sie häufig sind, wenn ihnen die Instrumente weggenommen werden, Leitplanken für das Gemeinwohl zu setzen. Der Europa-Parlamentarier Sven Giegold zum Beispiel - er gehört zum exklusiven Kreis derer, die gerade die Regeln für die Bankenregulierung in Europa formulieren fürs europäische Parlament - hat in Sao Paulo betont: Genau das brauchen wir. Wir brauchen gerade die Kirchen, wenn es darum geht, dass die Menschen die Kontrolle über ihr Schicksal zurück gewinnen. Die Stimme und der Beitrag der Kirchen ist wichtig auf dem Weg, die Wirtschaft und Finanzwirtschaft so zu verändern, dass die Menschen die Selbstbestimmung über ihr Leben, ihre Zukunft zurückgewinnen – im Einklang mit der uns anvertrauten Erde.

Das erfordert von der Kirche beides: Sie muss eine prophetische Klarheit haben wenn es um die kritischen Grundfragen geht. Und sie muss gleichzeitig eine gewisse Bescheidenheit zeigen, wenn sie auch mit den Experten im Dialog ist, wenn es um die Abwägung dessen geht, was auf dem notwendigen neuen Weg vorläufig angemessene, bessere oder schlechtere nächste Schritte sind.