Szenenfoto aus Paul Hindemiths Einakter "Sancta Susanna" (Ingeborg Greiner in der Rolle der Susanna)
Foto: Thilo Beu
Szenenfoto aus Paul Hindemiths Einakter "Sancta Susanna" in Bonn, mit Ingeborg Greiner in der Rolle der Susanna.
Paul Hindemith, die Lust und der verlorene Schlüssel
Die Bonner Bühnen wagen sich an das Einakter-Triptychon von Paul Hindemith. Die Opern-Trias konfrontiert im Mittelteil "Sancta Susanna" mit dem ekstatischen erotischen Erlebnis einer Nonne im Angesicht des gekreuzigten Christus. Über Jahrzehnte garantierte das Werk Skandale. Heute sensibilisieren die Kurzopern eher für einen anderen Blick auf die Zivilisation. Kann es außerhalb der Komödie die Versöhnung von Sein und Liebe geben?

1977 war wie 1921, déja vu. Wie nach der Frankfurter Uraufführung in der Weimarer Republik provozierte "Sancta Susanna" vor allem in kirchlichen Kreisen auch ein halbes Jahrhundert später noch. In Rom protestierten Parlament und Vatikan, die Klagen gipfelten in juristischen Versuchen, die Aufführung des Opern-Einakters von Paul Hindemith zu unterbinden. Die römische Episode ist ein illustres Element der bis heute spektakulären Rezeptionsgeschichte des Einakter-Triptychons von dem in Hanau am Main geborenen Komponisten (1895 – 1963). Die Geschichte der Nonne, deren unterdrückte Sexualität sich in einer ekstatischen Verschmelzung mit dem gekreuzigten Heiland Bahn bricht, ist ein geradezu klassischer Stoff, aus dem Skandale gemacht werden. In der Aufführung der drei Einakter ist "Sancta Susanna" das Mittelstück, eingerahmt von "Mörder, Hoffnung der Frauen" und "Das Nusch-Nuschi".

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Die Darstellung der Einmauerung und Entfesselung von Erotik mit den Mitteln des (Musik-)Theaters ist ja stets ein "Stresstest" für die Toleranz des Publikums und den Grad an Aufgeklärtheit einer Gesellschaft, sei sie borniert, liberal oder permissiv. Hindemith, in jungen Jahren "enfant terrible" einer verkrusteten Kunstszene, Erneuerer, Bürgerschreck der reaktionären nachwilhelminischen Epoche, hat nicht wenig selbst dazu beigetragen. Mit der Emigration in die Schweiz 1934, die Nazi-Brutalität vorausahnend, verfügte er selbst ein Aufführungsverbot für das gesamte Triptychon, das er wenige Jahre vor seinem Tod erneuerte.

Auf diesem Hintergrund ist jede Reaktivierung der Opern-Trias bereits eine kulturpolitische Tat. Das selten auf den Bühnen zu erlebende Erleben des "wankenden Raums" der menschlichen Zivilisation ist die Wiederentdeckung allemal wert. Zumal wenn es Aufgabe des Theaters ist, die Verstrickung des Menschen im Tanz der Geschlechter erfahrbar zu machen und Wege zu zeigen, ihr zu entrinnen, zumindest für Augenblicke der Liebe oder ganze Tage der Narretei.

Drei Akte über den Akt der Lust

Gerade 26 Jahre war Hindemith alt, als er den "Susanna"-Stoff nach dem Stück "Gesang der Mainacht" des expressionistischen deutschen Dramatikers August Stramm in ein Musikdrama verwandelte. Der Dirigent der Bonner Produktion Stefan Blunier beschreibt es als "26 Minuten Dauerspannung" und "fantastisch komponiert".

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Gewaltiger noch als "Susanna", verstörend, erbarmungslos ist die Musik zu "Mörder, Hoffnung der Frauen" nach dem Theaterstück des Wieners Oskar Kokoschka, den man gemeinhin als Maler kennt. Es thematisiert die Angst des prototypischen Mannes vor der Sexualität der Frau und ihre drakonische Bestrafung durch Brandmarkung. In gut 20 Minuten entsteht ein elektrisierendes Monument einer Zeitenwende, eines Aufbruchs in die Moderne, geprägt von Ideen eines Sigmund Freud, eines Otto Weiniger. Eine neue Kunst durchbricht die erstarrten bürgerlichen Konventionen und fragt nach den Abgründen der menschlichen Existenz, ihren Urbildern der Vorstellung, den Archetypen.

Völlig anders hingegen – ähnlich wie bei Puccinis Struktur des drei Jahre älteren "Trittico" – das musikalische Klima, in dem sich Hindemiths Komposition des Marionettenspiels "Das Nusch-Nuschi" abspielt. Es stammt von dem österreichischen Autor Franz Blei. Dominiert in den ersten beiden Einaktern die Tonalität des Schauderns, gewinnt in dieser Revue das Bukolische, das Heitere die Oberhand. Zwar droht auch hier der Lust die Kastrierung, doch – oh Wunder – erübrigt sich die grausame Ausführung. Umso unbefangener darf sich das Publikum an den zitierenden und verfremdenden Anleihen Hindemiths bei Bizet, Mahler, Strauss und Wagner ergötzen.

Das Theater ist nicht mehr Lieferant für Skandale

Die Welt um 1920 sei heute nicht mehr aus der Authentizität der damaligen Zeit auf die Bühne zu bringen. So hat der scheidende Generalintendant Klaus Weise das Konzept seiner Bonner Abschiedsregie begründet und sich etwa beim "Mörder"-Stoff für eine "Mann-Frau-Performance im Künstler-Atelier" entschieden. Dieser Ansatz lässt sich vielleicht auch auf die künftige Rezeption der Opern-Trias übertragen. Ein "Skandal" wie einst ist sie heute nicht mehr. In Frankfurt veranlasste der Schock der "Susanna"-Uraufführung den katholischen Frauenbund dazu, eine Sühneandacht anzusetzen. Andere kirchliche Organisationen veranstalteten Vorträge zur "Hebung der Sittlichkeit". Von solchen Reaktionen war in Bonn nichts zu spüren, auch nicht in Köln und Darmstadt, deren Bühnen das Triptychon in den letzten Jahren herausgebracht haben.

Skandale, eruptive Äußerungen moralischer Empörung, eignen sich, Rückschlüsse auf die  Werte und Konventionen einer Gesellschaft anzustellen. Herrschende setzen das "Skandalon" seit jeher gern als Mittel ein, um den ideellen Zusammenhalt einer Gemeinschaft zu stärken, insbesondere in Phasen von Bedrohung und Auflösung. Eben dies lässt sich derzeit an den Protestaktionen um das antiislamische Schmähvideo in einigen arabischen Gesellschaften festmachen. Zudem haben die Theater heute ihre Rolle als "Zulieferer" von Skandalen weitgehend an die Boulevardmedien und das private Fernsehen abgegeben.

Verlangen gibt's nicht ohne Sanktion

"Wir haben den Schlüssel verloren: wir finden ihn...", singen "Krieger und Weiber" im Kokoschka/Hindemith-Opus. Wirklich? Die Erotik, genauer: der Kampf Mann gegen Frau, Frau gegen Mann verliert selbst dann nicht seine Dimension der Destruktion, wenn sie wie bei Susanna in religiöser Verzückung und Erhöhung geschieht. Die Erfüllung des Verlangens ist dort einzig um den Preis neuerlicher Sanktion eine Option. "Nein!!!" schreit es aus Susanna heraus, als von ihr die Beichte verlangt wird. Dieses Credo wird böse Folgen haben. Einzig in der Komödie "Nusch-Nuschi" erfährt die Gewalt der Erotik ihre Aufhebung. Die "Sehnsucht des Menschen, in der Liebe und mit der Liebe leben zu können", wie Intendant Weise es formuliert, wird zur Praxis im Heiteren, im Humor, in der Kunst. Tröstlich? Schon, aber kein Trost, nicht wirklich.

Das Opern-Triptychon von Hindemith ist noch am 14. und 19. Oktober im Theater Bonn zu sehen.