Michael Meisers Blick geht in den Himmel - die Augen zusammengekniffen, die Stirn gerunzelt. Eigentlich müssten sie so langsam eintrudeln. Punkt 9 Uhr haben sich 59 seiner Brieftauben auf den Weg gemacht - mit rund 4.500 anderen, alle von Züchtern des Regionalverbands 550 Saar-Pfalz, dem Meiser vorsteht.
Mehrere Fahrzeuge hatten die Tiere ins französische Saint Diziers gebracht - für ihren ersten Flug in dieser Saison. Frankreich ist ein guter Startort für Brieftauben, oft kommt der Wind aus Westen. Auf dem Heimweg ins Saarland und nach Rheinland-Pfalz haben sie Rückenwind. Und dann hatte der Wetterdienst eigentlich noch den sonnigsten Tag der Woche gemeldet für diesen Flug-Sonntag.
Eigentlich. Denn heute hat der Wind gedreht, bläst unangenehm kühl aus Nord-Nordost. Außerdem lassen dichte Wolken der Sonne wenig Chancen. Je weniger Bedeckung, desto einfacher haben es die Tauben, die sich an der Sonne und dem Magnetfeld der Erde orientieren. Wie genau sie das bewerkstelligen, hat die Wissenschaft noch nicht endgültig entschlüsselt.
Fest steht, dass Inversionswetterlagen mit starken Temperaturunterschieden in den Luftschichten oder Regen den Vögeln Schwierigkeiten machen. Geflogen werde deshalb nur, wenn die Wettervorhersagen gut genug seien, sagt Meiser.
173 Kilometer und 181 Meter sind es genau bis zum Schlag von Meiser und seinem Vater im saarländischen Merchweiler. Die Strecke ist exakt per GPS vermessen. Sensoren am Taubenschlag übermitteln, wann die Taube ankommt. Bis auf drei Nachkommastellen wird die Geschwindigkeit gemessen, 1.200 Meter pro Minute schafft ein gut trainiertes Tier im Schnitt.
Ein aufwendiges Hobby
Seit den 1960er Jahren profitiert von den Wettflügen auch die "Aktion Mensch" ? durch jährliche Benefizflüge des Verbands Deutscher Brieftaubenzüchter. Auch Meisers Regionalverband Saar-Pfalz veranstaltet regelmäßig Benefizflüge, aktuell für die Kinderhospizstiftung Saar.
Meisers Vater Manfred bekam einst von seinem Opa Brieftauben geschenkt und begeisterte sich für die Tiere. Seit mehr als 40 Jahren schon hilft nun Sohn Michael mit. Aufwendig und zeitintensiv ist die Taubenzucht. Mehrmals am Tag werden die Tiere gefüttert, vier verschiedene Futtersorten sind im Angebot. Ein- bis zweimal die Woche bekommen sie ein Bad. Seidig glatt fühlt sich das Gefieder der Taube an, die Meiser aus dem Verschlag geholt hat.
Unruhige Minuten
Rund 27.000 Züchter gibt es noch bundesweit, die Zahlen sinken. In Merchheim züchteten in den 1950er Jahren noch rund 150 Menschen Brieftauben. Jetzt sind die Meisers die einzigen.
Unruhig gurrt es im Verschlag. Taubenpaare bleiben ein Leben lang zusammen. Einige warten nun auf ihre Partnerinnen und Partner, die am Flug teilnehmen. "Das steigert die Motivation", sagt Meiser. Selbstverständlich seien aber auch Paare gemeinsam unterwegs. Jetzt wird auch Meiser unruhig, schließt den Taubenschlag und geht in Richtung Terrasse. Fremde Personen in der Nähe des Einfluglochs würden die Tauben, sollten sie jetzt eintrudeln, irritieren und wertvolle Zeit kosten. Inzwischen hat sich Meiser eine rote Schirmkappe aufgesetzt. "Mein Glücksbringer."
Eine Nachricht geht auf seinem Handy ein. Ein befreundeter Züchter aus Frankreich meldet die Ankunft seiner ersten Taube. Meiser rechnet die Geschwindigkeit der Taube aus und auf die Distanz nach Merchweiler um. Käme seine erste Taube um 11.25 Uhr an, hätte er die Nase vorn. Da kreist eine Taube in der Luft - lässt sich dann aber auf dem Dach nebenan nieder. Eine Stadttaube. Falscher Alarm.
Nüsschen zur Belohnung
Plötzlich ist doch die erste Taube aus Saint Diziers da, unbemerkt von den Terrassengästen. Jetzt werden es deutlich mehr Tiere, die kreisen, einen weiten Bogen drehen und dann in rasantem Tempo im Einflugloch verschwinden. Einige machen es sich auf dem Dach des Taubenschlags gemütlich. Andere scheinen nervös, flattern immer wieder auf. Mit "Na, komm"-Rufen versucht Meiser, die Tiere ins Ziel zu lotsen.
34 von 59 Tauben sind mittlerweile da, Zeit für eine Belohnung. Meisers Vater nimmt sich eine Handvoll Erdnüsse und geht in den Taubenschlag. Einzeln verfüttert der 82-Jährige die Erdnüsse, hält sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Im Ganzen verschwinden die Nüsse im Schlund der Tauben, die dafür den Hals akrobatisch in die Luft drehen.
Auch Michael Meiser schaut nach seinen Flugkünstlern. Letztlich könne er jede der rund 200 unterscheiden, wenn er Aussehen und Flug studiere. Lieblingstauben habe er auch, gesteht er und streichelt liebevoll eines der Tiere.
Wer noch nicht oder nicht mehr fliegt, hat Platz in der "Nachwuchsfabrik" oder auch im "Altenheim", wie der Taubenliebhaber weitere Verschläge scherzhaft nennt.
Und dann ist da noch ein Raum, in dem es überraschend still ist. Rund 20 Augenpaare schauen den Betrachter an, ohne einen einzigen Laut. "Unsere Jungtauben", sagt Meiser. Erst wenn der Geschlechtstrieb einsetzt, beginnen sie mit dem gewohnten Gurren, das so untrennbar mit Tauben verbunden scheint.
Am Ende des Flugtags wird Züchter Jean-Marie aus Frankreich gewinnen. Meiser wiederum ist glücklich, dass alle 59 Tiere heil gelandet sind. "Dass ein so kleines Wesen so große Strecken zurücklegen kann, fasziniert mich immer wieder."