In einem Offenen Brief prangern Hunderte Anwältinnen und Anwälte "Wir stehen in diesen Tagen vor den massivsten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts seit Jahrzehnten", kritisieren die Verfasser in dem am 26.5. veröffentlichten Schreiben. Es erfolge derzeit ein Paradigmenwechsel: "Die Bundesregierung will das Asylverfahren demontieren und zu einem Schnellverfahren an den Außengrenzen machen."
Unterzeichnet haben rund 700 Juristinnen und Juristen. Sie kritisieren die Reformpläne zum europäischen Asylrecht, die unter anderem Verfahren an der Grenze und die sogenannte Fiktion der Nicht-Einreise vorsehen. Damit werde ein Zustand der Rechtslosigkeit geschaffen, heißt es in dem Offenen Brief an Bundesregierung, Bundestag und Ministerpräsidentinnen und -präsidenten.
"Dies wird mit der Einrichtung von Internierungslagern einhergehen. Flankierend dazu sollen auf nationaler Ebene Ausreisezentren geschaffen, Abschiebehaft ausgeweitet, die Liste sicherer Herkunftsstaaten verlängert und die Möglichkeiten des polizeilichen Zutritts zu Unterkünften zur Durchführung von Abschiebungen ausgebaut werden."
Die Bundesregierung habe in ihrem Koalitionsvertrag in der Migrationspolitik einen Paradigmenwechsel in entgegengesetzter Richtung angekündigt, um Geflüchtete zu schützen, betonen die Unterzeichner. Sie habe zugesagt, sich für bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren auf europäischer Ebene einzusetzen. "Nun betreibt sie eine Politik der Abschottung, in der die Menschen und ihre Rechte keinen Platz in den veröffentlichten Beschlüssen und Statements haben."
Rechtsstaat in Frage gestellt
Die auf nationaler und europäischer Ebene forcierten Änderungen "sind nicht nur eine der weiteren x-beliebigen Verschärfungen des Asylrechts - sie stellen das Recht von Geflüchteten, sie stellen den Rechtsstaat als solchen in Frage", erklären die Juristinnen und Juristen weiter. Diese Politik werde keiner Kommune und keinem der vielen Helferinnen und Helfer vor Ort helfen. Sie werde vielmehr "die Entrechtung und das Leid an den europäischen Außengrenzen eskalieren".
Auch die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus, warnt vor einer EU-Asylrechtsreform auf Kosten der Menschenrechte. "Das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention dürfen nicht derart ausgehöhlt werden, dass sie nur noch leere Worthülsen sind", sagte sie vor EU-Abgeordneten und weiteren Gästen eines Empfangs der EKD in Brüssel.
Faire Verteilung
Verpflichtende Asylverfahren an den Außengrenzen würden auf Dauer die Glaubwürdigkeit der Europäischen Asylpolitik unterwandern. "Aus Flüchtlingsschutz droht Schutz vor Flüchtlingen zu werden, Inhaftierungen und Menschenrechtsverletzungen werden an der Tagesordnung sein", erklärte Kurschus laut Redemanuskript. Der Zugang zu fairen und effektiven Asylverfahren auf europäischem Boden müsse gewahrt bleiben, ebenso wie menschenwürdige Aufnahmebedingungen. "Statt mehr Grenzschutz, Haftzentren und der Aushöhlung des Asylrechts braucht es einen verpflichtenden Verteilungsmechanismus, der die Außengrenzstaaten im Fall von Überlastung unterstützt", sagte die EKD-Ratsvorsitzende.
Der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer fordert eine europäische Migrationsunion und eine Abkehr vom Dublin-System. Analog zur Währungsunion sei ein gemeinsames Flüchtlings- und Asylsystem notwendig, sagte der Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Die Bedingungen für das Recht auf Asyl müssten innerhalb einer solchen Union einheitlich und transparent formuliert werden. Ansonsten werde die EU mit ihrer Flüchtlingspolitik in der Sackgasse verharren.
Raus aus dem Notfallmodus
Die vergangenen 20 Jahre hätten gezeigt, dass ein Solidaritätsmechanismus zur gerechten Verteilung der Flüchtlinge innerhalb des Dublin-Systems nicht zustande kommen werde, sagte Oltmer. Trotzdem erkläre jede Bundesregierung von Neuem, dass sie sich um Solidarität bemühen werde, beklagte der Vizepräsident der Uni Osnabrück. Auch bezüglich der aktuellen Diskussionen um eine Verlagerung von Asylverfahren an die europäischen Außengrenzen oder um beschleunigte Abschiebungen sei von vornherein klar, dass sie sich nicht umsetzen ließen. Trotzdem würden solche Vorschläge immer wieder hervorgeholt. "Das ist gewissermaßen eine Simulation von Politik."
Oltmer kritisierte zudem, dass in Deutschland bezüglich der Aufnahme von Flüchtlingen noch immer ein Gipel- und Notfallmodus vorherrsche. "Damit wird suggeriert, die zunehmende Zahl der Schutzsuchenden stelle uns vor nicht zu stemmende Herausforderungen. Das trägt dazu bei, dass viele Menschen in der Bundesrepublik zu der Auffassung gelangen, das seien jetzt zu viele Flüchtlinge. Wir müssen anerkennen, dass Flucht in Deutschland ein Dauerthema bleiben wird."
Dementsprechend erwarte er, dass Bund, Länder und Kommunen zu regulären Abstimmungs- und Finanzierungswegen für die Aufnahme von Flüchtlingen kämen, sagte der Historiker. Nur dann seien die Kommunen in der Lage, genügend Kapazitäten für die Unterbringung vorzuhalten. Stattdessen werde immer wieder auf Flüchtlingsgipfeln über Notfallhilfen verhandelt.