Als die Leute in der Mainzer Neustadt ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn Straßen den Anwohnern und nicht mehr den Autos gehören, ist Nina Maskus mittendrin. Auf einigen Abschnitten parken vorübergehend keine Pkw, stattdessen spielen hier Kinder, es gibt Musik und einen Jonglier-Kurs. Und auch das Evangelische Stadtjugendpfarramt, wo die 19-Jährige gerade ihren Bundesfreiwilligendienst absolviert, beteiligt sich an der Aktion.
Maskus ist selbst in einem Pfarrhaus groß geworden, viele engagierte Kirchenmitglieder kennt sie von klein auf, und selbst aus der Kirche auszutreten, das käme für sie nie infrage: "Meine Gemeinde ist meine Heimat." In der Evangelischen Jugend hat sie viele Gleichgesinnte gefunden. Luisa Eizenhöfer, eine gute Freundin, sieht das ganz ähnlich, allerdings ist sie katholisch und engagiert sich in ihrem rheinhessischen Heimatort in der Kirchengemeinde bei der Betreuung der jüngeren Messdiener. "Die Leute sehen nur Schlagzeilen und Skandale, aber nicht das, was wir sehen, nicht unsere Gemeinschaft", sagt die Auszubildende.
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen kommt für die beiden großen Kirchen in Deutschland einer Katastrophe gleich: 2022 kehrten 380.000 Menschen der evangelischen Kirche den Rücken. Die katholischen Bistümer haben für das vergangene Jahr noch keine Zahlen veröffentlicht, aber 2021 verbuchten sie ebenfalls so viele Austritte wie nie - knapp 360.000.
Nicht zuletzt die Skandale rund um das Thema sexualisierte Gewalt und der Umgang damit haben das Vertrauen vieler Menschen in die Institution Kirche schwer erschüttert.
Ein Drittel der Mitglieder glaubt nicht an Gott
Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, geht seit längerer Zeit der Frage nach, warum Menschen die Kirche verlassen - oder eben bleiben. "Ein Drittel der Kirchenmitglieder glaubt nicht an Gott", stellt er nüchtern fest. Die Gemeinschaft in einem guten Chor könne aber bereits ein Grund sein, sich weiter der Kirche verbunden zu fühlen. Und es legten noch immer viele Menschen Wert auf, dass jemand sie an den Wendepunkten des Lebens begleitet, dass also weiterhin Kinder getauft werden, bei einer Heirat auch ein Pfarrer dem Brautpaar Gottes Segen zuspricht und Verstorbene ein christliches Begräbnis erhalten.
Wer wirklich gläubig sei, bleibe in der Regel meist dann in der Kirche, sogar dann, wenn ihm vieles an der Institution missfalle. Denn ohne eine Gemeinde lasse sich ein persönlicher Glaube kaum aufrechterhalten, ist sich Pickel sicher: "So eine Form der Religiosität zerbröselt über die Zeit." Erst in jüngster Zeit sei ein Trend zu erkennen, dass auch sehr religiöse Menschen austräten - vor allem aus der katholischen Kirche.
Auch die beiden Freundinnen aus Mainz ärgern sich über vieles, was in ihren Kirchen ihrer Meinung nach falsch läuft. Luisa Eizenhöfer setzt sich dafür ein, dass die katholische Kirche endlich die Rolle von Frauen überdenkt: "Keine Kirche würde ohne Frauen laufen." Und die evangelische Pfarrerstochter Maskus meldet sich regelmäßig zu Wort, wenn sie erlebt, dass in ihrer Landeskirche die Interessen der Jugend "hinten runterfallen". Jüngster Anlass war der Beschluss, ein als Jugendbildungszentrum genutztes einstiges Kloster aufzugeben.
Religionssoziologe Detlef Pollack aus Münster sagt, viele Mitglieder halte auch in der Kirche, dass es sich in ihren Augen um eine Institution handele, die eben doch "etwas Gutes tut" - sich beispielsweise um Arme, Schwache und Benachteiligte kümmere. Entscheidend für die Bindung an die Kirche sei letztlich aber das Bild der eigenen Ortsgemeinde - weniger die Äußerungen von Papst oder Bischöfen.
Wenn dieses Bild überzeugt, finden auch manche eher distanzierte Mitglieder den Weg zurück in die Gemeinde - so war das etwa bei der Verwaltungsangestellten Jeannette Sartorius aus Hamm bei Worms. Zum Auslöser wurde der Konfirmandenunterricht ihrer Tochter. Mittlerweile gehört Sartorius dem Kirchenvorstand an, organisiert den Kindergottesdienst. "Die Menschen in unserer Gemeinde sind alle sehr lieb und fürsorglich", sagt sie. Im Vergleich zu anderen ehrenamtlichen Engagements erfahre sie in der Kirche mehr Wertschätzung.
Ihre Tochter, die mittlerweile 16-jährige Miriam Sartorius, kümmert sich seit ihrer eigenen Konfirmation ehrenamtlich um die nachrückenden Konfirmanden-Jahrgänge - auch, weil sie von der engagierten örtlichen Pfarrerin sehr beeindruckt war. Oft werde sie von den Jungen und Mädchen gefragt, warum sie das tue, erzählt die Schülerin: "Es fühlt sich einfach richtig an, wie eine Art Berufung."