Foto: markusspiske/photocase
Ein Suchtverhalten zeigt sich dann, wenn ein Betroffener immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringt und daran scheitert, seine Mediennutzung zu kontrollieren.
Auf der Suche nach der Internetsucht
Eine halbe Million Menschen gelten in Deutschland als internetabhängig, darum stellt Mechthild Dyckmans, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, "Onlinesucht" in den Mittelpunkt ihrer Jahrestagung 2012. Blogger halten dagegen und warnen vor der Pathologisierung einer ganzen Generation. Die Sichtweisen auf das Phänomen "Onlinesucht" unterscheiden sich deutlich: Für die einen ist es krankhaft, für die anderen normal, wenn jemand stundenlang surft und spielt.
09.10.2012
epd/evangelisch.de

Für Maria S. fing alles mit einem Bauernhofspiel an. Im Internetspiel "Farmville", das über Facebook verbreitet wird, pflanzte sie in ihrer virtuellen Welt Erdbeeren und Bäume, melkte Kühe und baute sich ein Haus. Erst zwei Stunden täglich, dann drei Stunden, schnell wurden daraus zehn Stunden.

Die 24-Jährige war arbeitslos, fühlte sich einsam, hinzu kamen Gewichtsprobleme. Sie hatte einen versetzten Tagesrhythmus, schlief bis 17 Uhr und zockte die Nacht durch. Die Internetspiele gaben ihr die Bestätigung, die sie außerhalb ihrer vier Wände nicht bekommen konnte - sie waren zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden. Bis zu dem Tag, an dem sie sich Hilfe holte. 

"Meistens sind die Freundin und der Job schon weg"

"Bei uns tauchen die Leute auf, wenn es schon kurz nach zwölf ist", sagt Sozialpädagoge Jannis Wlachojiannis. Er berät im Café Beispiellos in Berlin-Kreuzberg Computerspiel- und Internetabhängige. "Lost in Space" (Verloren im Raum) nennt sich das Beratungsangebot des Caritasverbands für das Erzbistum Berlin.

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"Meistens sind die Freundin und der Job schon weg", sagt Wlachojiannis. Erst dann sei der Leidensdruck hoch genug, um sich professionelle Hilfe zu hohlen. Der Sozialpädagoge berät Betroffene und Angehörige: Erwachsene Männer, die sich 20 Stunden am Stück in "World of Warcraft" verlieren, oder Mütter, die sich Sorgen um ihre Söhne machen, weil sie sich tagelang vor dem Computer in ihren Zimmern verbarrikadieren. "Frauen kommen selten zu uns", sagt Wlachojiannis. 90 Prozent seien Männer.

Die Bundesdrogenbeauftragte Mechthild Dyckmans (FDP) warnt vor einer steigenden Medienabhängigkeit in Deutschland. Am 9. Oktober berät sie in Berlin mit Experten über Entwicklungen und Erkenntnisse zur "exzessiven und pathologischen Computerspiel- und Internetsucht" in Berlin. Laut einer Studie im Auftrag der Bundesdrogenbeauftragten aus dem Jahr 2011 gelten in der Altersgruppe der 14- bis 64-Jährigen schätzungsweise 560.000 Menschen in Deutschland als internetabhängig.

Keine medizinisch anerkannte Krankheit

"Ein Suchtverhalten zeigt sich dann, wenn ein Betroffener immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringt und daran scheitert, seine Mediennutzung zu kontrollieren", sagt Psychiater Bert Theodor te Wildt, Vorsitzender des Fachverbands für Medienabhängigkeit. Vernachlässige der Betroffene zusätzlich soziale Kontakte, Körperpflege, Ernährung und Gesundheit, sei es ratsam, sich Hilfe zu holen.

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Häufig geht eine Computerspiel- oder Internetsucht einher mit Leistungsabfall in Schule, Ausbildung oder Beruf. Folgen können Depressionen, soziale Ängste oder Aufmerksamkeitsstörungen sein. Medienabhängigkeit ist allerdings keine medizinisch anerkannte Krankheit. Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. fordert deshalb die Aufnahme der Leistungspflicht in den Katalog der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dies würde den Betroffenen den Zugang zu therapeutischer Hilfe erleichtern, sagt te Wildt.

Im Netz wird das Thema Internetsucht anders wahrgenommen: Blogger und Onlinejournalisten warnen vor der Pathologisierung einer ganzen Generation. "Eure Internetsucht ist unser Leben", schreibt beispielsweise Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo: Die Debatten über Internet "werden geprägt von Leuten, die sich schlicht weigern, die Funktion und die Bedeutung des Internets für eine digital geprägte Generation zu erfassen", schreibt Lobo.

Dazu kommt, dass "das Internet" nicht als allgemeine Kategorie taugt, um Mediennutzung zu beurteilen: Es macht einen Unterschied, ob jemand sechs Stunden Farmville spielt oder jemand zu einem Thema, das ihn interessiert, sechs Stunden lang Artikel liest, Videos guckt und Foreneinträge schreibt.

Die Sorge der meisten Mütter ist unbegründet

"Niemand möchte das Internet mit seiner Faszination und seinen zahlreichen Möglichkeiten verbieten", entgegnet te Wildt. Der Großteil der Menschen könne seine Mediennutzung kontrollieren, doch die Jüngeren müssten einen aufgeklärten Umgang erst erlernen. Computerspiele seien nicht per se etwas Schlechtes. "Manche Eltern kommen ohne Grund zur Sorge zu uns in die Sprechstunde", sagt Wlachojiannis. Das Internetverhalten der meisten Jugendlichen sei "normal" und "nicht exzessiv".

Doch für eine kleine Gruppe von Nutzern gelte dies eben nicht. Ihnen rät der Sozialpädagoge, sich auf andere Lebensbereiche zu konzentrieren, sich jemandem anzuvertrauen, Freundschaften zu pflegen und sich rechtzeitig mit Problemen auseinanderzusetzen. Sonst kann es im schlimmsten Fall so kommen wie für Maria S.: Ihr Ausflug in die virtuelle Welt endete in einer psychiatrischen Klinik.