Seit fast einem Monat ist der Iraner Sadegh zu Fuß unterwegs, etwa 25 Kilometer laufen er und die anderen Flüchtlinge jeden Tag – in Würzburg sind sie gestartet, in Berlin werden sie am Freitag ankommen. Sadegh hat schon Blasen an den Füßen, aber das macht ihm nichts: "Das Laufen hilft gegen die Depressionen", sagt er.
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Depressionen, die hat Sadegh, seit er im Asylbewerberheim in Nürnberg wohnt. Vor einem Jahr kam er dorthin. Wohnen sei eigentlich nicht das richtige Wort, sagt er, denn er fühle sich wie in einem Gefängnis: Es werde kontrolliert, wann er kommt und wann er geht; die Flüchtlinge bekommen Wertmarken für Kleidung und Essen. Sadegh dürfe nicht arbeiten, kein Deutsch lernen und den Raum Nürnberg nicht verlassen. "Seid vorsichtig, wir müssen heute ein gutes Stück an der Landstraße entlanglaufen", sagt einer der Gruppe auf englisch. Los geht es im Gänsemarsch. Vorbei an Weiden mit Kühen, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. So, als wäre in dieser Welt alles in Ordnung.
Einen Monat lang brechen sie das Gesetz
Mit ihrer Wanderung protestieren die Flüchtlinge gegen Gemeinschaftsunterkünfte, Abschiebung und vor allem gegen die Residenzpflicht. Sie bedeutet, dass sie sich nur in dem Umkreis bewegen dürfen, den die zuständige Ausländerbehörde erlaubt. Ihr Bundesland dürfen sie nicht verlassen. Mit dem Protestmarsch brechen die Flüchtlinge bewusst das Gesetz. Die Polizei wertet den Marsch derzeit nur als Ordnungswidrigkeit, andernfalls würden die Wanderer verhaftet. Davor haben Flüchtlinge monatelang in der Würzburger Innenstadt gecampt, um auf die schlechte Situation in den Heimen aufmerksam zu machen. Ausgelöst wurden die Proteste im Januar, nachdem sich in Würzburg ein iranischer Asylbewerber umgebracht hatte.
Unterwegs nach Berlin: Zwanzig Flüchtlinge protestieren gegen die Residenzpflicht. Foto: Mirjam Schmitt
Die Flüchtlinge kommen aus dem Iran, aus Afrika, aus Afghanistan und der Türkei. Sie alle haben Schlimmes erlebt. Niemand hat sein Heimatland freiwillig verlassen. Am 8. September sind sie in Würzburg gestartet, jeden Tag dokumentieren sie ihren Marsch auf ihrer Website. Sie campen oder schlafen in Gemeinderäumen, bei Privatpersonen oder in kirchlichen Einrichtungen. Immer wieder kommen Helfer dazu, die Verpflegung bringen, kochen oder zur moralischen Unterstützung mitlaufen.
Ohne Pass kein Deutsch
Vor 18 Jahren ist Sadegh aus seinem Heimatland Iran geflüchtet. Der 38-Jährige hat dort alles zurückgelassen. Er hat gegen das Regime protestiert, erzählt er. Würde er zurückkehren, würden sie ihn sofort festnehmen. Deshalb will Sadegh seinen Nachnamen lieber nicht verraten.
Er floh damals mit Zwischenstation in der Türkei nach Griechenland. Dort sei die Situation durch die Finanzkrise schlimm geworden: "Wir hatten nichts zu essen. Flüchtlinge sind dort vogelfrei. Zweimal wurde ich von griechischen Nationalisten auf der Straße verprügelt und die Polizei hat weggeschaut." Er wusste: In Griechenland hat er keine Zukunft.
Turgay Ulu, 38 Jahre alt, möchte gerne deutsch lernen. Ohne Pass ist das aber nicht möglich. Foto: Mirjam Schmitt
Der türkische Flüchtling Turgay Ulu ist in einem Asylbewerberheim in Hannover untergebracht und reiste nach Würzberg, um den Protest zu unterstützen. "Die Residenzpflicht ist unmenschlich", sagt er. "Sie geben uns zu essen und einen Ort zum Schlafen, aber einen Menschen macht doch mehr aus. Wir wollen uns bilden und am kulturellen Leben teilhaben." Einmal habe er eine Sondergenehmigung beantragt, er wollte zu einer Ausstellung nach Köln. Das wurde nicht genehmigt. Deutsch würde Turgay Ulu auch gerne lernen. Als er den Hausmeister im Heim danach fragte, sagte der: "Kein Pass, kein Deutsch."
"Nehmen die auch Wertmarken?"
Turgay Ulu blickt hoch und klatscht. Einer aus der Gruppe ist einen Laternenmast hoch geklettert und zieht ein NPD-Plakat herunter. Er zerreißt es und klemmt die Pappe unter den Arm. "Weiter geht's", ruft ein anderer. 20 Flüchtlinge laufen im Moment mit, mit 18 sind sie gestartet.
15 Jahre saß Turgay Ulu in der Türkei als politischer Gefangener in Haft, sieben Jahre davon in Untersuchungshaft. Als er freigelassen wurde, verließ er sofort das Land. "Sie hätten mich sicher wieder verhaftet" , sagt er. In Deutschland schreibt er Gedichte und Artikel für die Zeitung "The Voice of Refugees and Migrants" auf Türkisch, die von Helfern auf Deutsch übersetzt werden.
Als die Gruppe ein Haus passiert, an dem "Zu verkaufen" steht, grinst Turgay Ulu seinen Nachbarn an und sagt: "Meinst du, die nehmen auch Wertmarken?" Dadurch, dass die Flüchtlinge das Bundesland nicht verlassen dürfen, in dem sie untergebracht sind, könnten sie nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben, sagt Turgay Ulu. Sie dürfen nicht arbeiten und hätten deshalb nicht einmal genug Geld, um von der kleinen Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. Turgay Ulu und die anderen werden bis nach Berlin laufen. Dort, in Kreuzberg, wollen die Flüchtlinge am Samstag mit einer Demonstration auf sich aufmerksam machen. Danach müssen sie wohl wieder in ihre Flüchtlingsheime zurück. Die Residenzpflicht ruft.