Märchen sind ein Schlüssel zur Seele. Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann hat zahlreiche Märchen der Gebrüder Grimm tiefenpsychologisch analysiert. Wie hilfreich Märchen in der psychotherapeutischen und pädagogischen Arbeit sein können, stellte er kürzlich auf dem Fachtag "Die Wahrheit der Märchen" in Offenburg vor.
"Märchen favorisieren Gefühle, nicht Gedanken", sagte der 82-Jährige. Sie sprächen in Symbolen, so Drewermann. "Eine Hexe ist nicht die Hexe aus dem Mittelalter. Sie, wie auch die regelmäßig auftretende Stiefmutter, ist die vom Kind als bedrohlich erlebte Mutterfigur", erklärte er. Beim Lesen von Märchen gehe es darum, die Symbolsprache zu erfassen. Als Beispiel für die Bedeutung des abwesenden Vaters führte er das Märchen vom "Aschenputtel" an. Das "Aschenputtel" suche nach einem Partner, der diese Vater-Lücke fülle.
Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen werde etwa in dem "harmonischsten" Märchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm "Schneeweißchen und Rosenrot" erzählt. Der Theologe wies auf das "religiöse Format" von "Schneeweißchen und Rosenrot" hin. Das "Vertrauen" habe die Kinder ihre Angst überwinden lassen. Symbole und Träume könnten Wegweiser für das reale Leben sein, sagte Drewermann und zitierte aus der Bergpredigt: Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. "Wir alle waren einmal Kind, auf dem Weg zum Erwachsenen wurde uns vieles genommen", so der Therapeut.
Märchen sind auch Lehrstücke für den Sinn des Lebens. "Der Schneider im Himmel" sei ein einfaches Märchen mit einem profan dargestellten Gott, so Drewermann. Es zeige, wie Gott heute fehle. "Es gibt nur noch die Strafgerichtsbarkeit statt Mitleid, das in den Himmel führt", interpretierte er. Die Botschaft des Märchens laute: Stärke hilft dir nicht weiter.
"Ich möchte Sie befähigen, Märchen so zu lesen, dass Sie in die Seele der Menschen schauen und beim Lesen das Kind wieder finden", sagt Drewermann zu seinen Zuhörern. Beispielhaft für die Psychologie der Magersucht sei das Märchen "Hänsel und Gretel", sagte er dem epd. Patienten brächten in der Therapie Themen mit, "die zu Märchen führen", berichtete der Psychoanalytiker. "Manche kommen schon mit einem Märchen und sagen: Genauso ist es bei mir", ergänzte er. Bei "Hänsel und Gretel" habe die Mutter aus Armut und Not die Kinder im Wald ausgesetzt. Um zu überleben, müsse Hänsel der Hexe einen dürren Knochen zeigen. Erst mit dem Tod der Hexe, welche die "böse" Seite der Mutter symbolisiere, gelinge den Kindern die Heimkehr zum Vater.
Kulturell angesiedelt in der Zeit der Romantik thematisieren die Gebrüder Grimm in zahlreichen Märchen die Natur und deren Jahreslauf. Die Märchen sind erzählt in einer altertümlichen Sprache. Sie beschreiben typologische Charaktere. Psychoanalytisch betrachtet, zeigen sie als eine Möglichkeit "den Weg zur Problemlösung, den Weg zur Gesundung auf", sagt Drewermann. Der Einsatz von Märchen in der Psychotherapie habe seinen besonderen Wert darin, "die Menschen das Träumen zu lehren".
In "Frau Holle" etwa gehe es um den Sinn des Lebens. Goldmarie begegnet den Dingen, hört den Menschen zu und handelt im Gehorsam gegenüber der Not der anderen. Der Gegenpol ist "Pechmarie", die eine Kopie der Goldmarie lebt. "Die größte Gefahr der Jugend heute sehe ich im Selbstbetrug statt authentischem Leben", meinte der Therapeut mit Blick auf die Gesellschaft. Es gebe jedoch auch viele Goldmaries. "Man muss sie nur finden", fügte Drewermann hinzu.