Tausende Deutsche tragen die Nachnamen Süß oder Sauer. Die meisten Sauers finden sich im Rhein-Main-Gebiet, während der Familienname Süß vor allem im Erzgebirge und im Bayerischen Wald verbreitet ist. Müllers gibt es überall, aber Millers vor allem in Schwaben. Der Freiburger Sprachwissenschaftler Konrad Kunze und seine Fachkollegin Damaris Nübling von der Universität Mainz erforschen seit Jahren, wie die Deutschen zu ihren Nachnamen kamen. Die wichtigsten Ergebnisse haben sie jetzt in ihrem "Kleinen deutschen Familiennamenatlas" zusammengefasst.
"80 Prozent der Bevölkerung sitzen immer noch dort, wo vor 800 Jahren ihre Vorfahren gesessen haben", fasst Kunze, emeritierter Professor der Universität Freiburg, eine Kernerkenntnis zusammen. Diese Beständigkeit sei durchaus erstaunlich angesichts aller historischen Umwälzungen und der stark angewachsenen Mobilität. Stets sei die Mehrzahl der Menschen bei der Gründung einer Familie "in Kirmes-Distanz" zum früheren Wohnort geblieben.
Zumindest war das noch die Situation im Jahr 2005. Für ihre Forschungen zur Namens-Verbreitung konnten die Wissenschaftler die kompletten Datensätze der Deutschen Telekom aus jenem Jahr auswerten. Damals besaßen noch fast alle Haushalte in der Bundesrepublik einen Festnetzanschluss bei dem damaligen Monopolisten. Zu historischen Abgleichen zogen sie zudem unter anderem Verlustlisten aus dem Ersten Weltkrieg heran.
In den Familiennamen der Deutschen liest Kunze wie in einem Geschichtsbuch. Er spricht gerne von "sprachlichen Fossilien", aus denen man viele Erkenntnisse über das Leben im Mittelalter gewinnen könne - jener Zeit um 1200, als sich im deutschsprachigen Raum die Nachnamen etablierten. "Wenn man anfängt, ist es, wie wenn man in einer Schatztruhe wühlt."
Sogar Jodmangel lässt sich am Nachnamen erkennen
Aus den Nachnamen lasse sich teils messerscharf erkennen, wo vor Herausbildung der modernen hochdeutschen Sprache einst welche Dialektgrenzen verliefen. An der Verteilung der Weizeneggers oder Gerstenmeiers lasse sich ablesen, welches Getreide wo angebaut worden sei. Und die Anzahl der Familien mit dem Nachnamen Kropf oder Kröpcke deute auf die einstige geografische Verbreitung von Jodmangel hin.
Im Gegensatz zu den Vornamen waren die Familiennamen im deutschsprachigen Raum anfangs Fremdzuschreibungen. Sie ermöglichten es, in den wachsenden Städten Menschen mit gleichem Rufnamen anhand des Berufs, des Wohnortes, der Herkunft, des Vaters oder anderer Eigenschaften zu unterscheiden. Irgendwann wurden diese zugeschriebenen Namen an die Kinder vererbt und in den Kirchenbüchern nach Gehör verschriftlicht.
"Im Mittelalter hießen viele Menschen Arschloch"
Immer wieder kam es deshalb auch vor, dass eher negative Eigenschaften des ursprünglichen Namensträgers zu Familiennamen wurden. Der im Süden verbreitete Familienname Späth bezeichnete ursprünglich einen Langschläfer, Sauer in den meisten Fällen wohl einen missmutigen Zeitgenossen und Hebestreit verweist auf einen zanksüchtigen Nörgler unter den Ahnen. "Im Mittelalter hießen viele Menschen Arschloch", berichtet Kunze, "in Frankfurt waren es mindestens 20 Familien."
Nicht alle, aber fast alle Familiennamen können Kunze und Nübling erklären - selbst so exotische wie Einhorn oder Pelikan, die sich auf Hauszeichen zurückführen lassen. Die Namen Gölzenleuchter und Nonnenmacher wiederum sind Umschreibungen für den Beruf von Tierkastratoren. Die Vorfahren der Familien Haßdenteufel - ihr geografischer Schwerpunkt liegt im Saarland und in Rheinland-Pfalz - waren wohl besonders verwegene Landsknechte.
In den seit 2009 erschienenen sieben Bänden ihres Deutschen Familiennamenatlas haben die beiden Forscher die Geschichte Tausender Familiennamen analysiert. Übereinandergestapelt bilden die für ein Fachpublikum gedachten Bücher einen beeindruckenden Turm, aber selbst der für eine breite Leserschaft geschriebene "Kleine deutsche Familiennamenatlas" ist noch über 730 Seiten stark.