Vergangenes Wochenende ist eine Epoche zu Ende gegangen: Samstag Nacht wurden die letzten drei deutschen Kernreaktoren abgeschaltet, nachdem uns AKWs 60 Jahre lang Strom geliefert haben. Laut einer Umfrage sieht die Mehrheit der Deutschen das Abschalten kritisch. Deshalb wurde wieder leidenschaftlich diskutiert, ob man die letzten Reaktoren länger laufen lassen sollte oder ob man sie zumindest als Reserve einsatzfähig halten sollte, um die Energiewende weg vom Kohlestrom besser zu bewerkstelligen.
Seit der heißen Protestphase Ende der Siebziger hat die Kernkraft auch die Kirchen in Deutschland sehr bewegt. Immerhin sind viele Christ:innen der Meinung, die Kernenergie sei zu riskant, als dass sie vereinbar wäre mit dem Schöpfungsauftrag, die Erde zu "bebauen und bewahren" (1. Mose 2,15). Bei der "Schlacht um Brokdorf" 1976 hielten etwa 40 Pastor:innen einen großen Protestgottesdienst. Kurz nach dem Unglück von Tschernobyl beschloss eine EKD-Synode: "Wir mu?ssen so bald wie mo?glich auf andere Energietra?ger umsteigen." Hat die evangelische Ethik also etwas zur Debatte um die letzten AKWs beizutragen?
Die Energiewende
Der Ausstieg aus der Kernenergie steht seit 2011 fest. Letztes Jahr hatten die verbleibenden drei AKWs sechs Prozent des deutschen Energiebedarfs gedeckt. Aufgrund des Ukraine-Krieges verzichtet Deutschland außerdem auf russisches Gas. Deshalb wurden auch Kohlekraftwerke reaktiviert. Etwa ein Drittel der deutschen Energie wurde 2022 aus Kohle gewonnen. Doch laut Gesetz steht dieser Weg nur noch fünfzehn Jahre lang offen. Nach Möglichkeit möchte sich die Regierung sogar bereits 2030 von der Kohle verabschieden.
Wind- und Sonnenenergie müssen also in den kommenden Jahren massiv ausgebaut werden. Nachdem die alternativen Energien in Deutschland im letzten Jahrzehnt ausgebremst worden waren, hat der Bundestag inzwischen die Errichtung neuer Windräder und Solaranlagen deutlich beschleunigt. Ob wir den Zeitplan einhalten werden, ist aber nicht ausgemacht: Es könnte unter Umständen sein, dass Deutschland Ende dieses Jahrzehnts seinen Strombedarf nicht aus eigener Kraft decken kann.
War das Ausschalten richtig?
War es in dieser Situation sinnvoll, die drei AKWs auszuschalten? Natürlich befinden wir uns in einer Energiekrise. Immerhin haben Studien aber ergeben, dass es in diesem Jahr und im kommenden Winter voraussichtlich nicht zu Stromausfällen kommen wird. Außerdem würde ein fortgesetzter Betrieb der AKWs den Strompreis vermutlich nur um etwa vier Prozent senken. Das war wohl nicht genug, um den fortgesetzten Betrieb von Kernkraftwerken zu rechtfertigen.
Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass Deutschland die Kohleverbrennung drosseln könnte, wenn die AKWs weiterhin aktiv wären. Mit weniger CO2-Emissionen kämen wir der Klimaneutralität näher, die ja ohnehin ein ehrgeiziges Ziel ist.
Die praktischen Bedingungen
Die letzten AKWs konnte man aber nicht einfach für etwa 12 Monate weiterlaufen lassen. Um sie am Netz zu lassen, hätte man in neue Brennstäbe investieren müssen. Um die hätte man sich spätestens im Frühjahr 2022 bemühen müssen. Hätte man schließlich Brennstäbe erhalten, dann wäre es wenig einleuchtend, ihre Kapazität nicht vollständig zu nutzen, nämlich für drei Jahre oder länger. Es wäre aber politisch unrealistisch, von den Grünen zu verlangen, den Ausstieg aus der Kernenergie wieder unter einen solchen Vorbehalt zu stellen.
Das Schreckgespenst der Ideologie
Für andere dagegen ist die Kernkraft eine saubere Technologie. Sogar Greta Thunberg hat sich so geäußert. Als die "Tagesthemen" am Abend zuvor der Abschaltung eine Sendung widmeten, war gefühlt kein Wort so oft zu hören wie das der "Ideologie". Der Vorwurf wurde laut, Deutschland sei irrational und gehe einen "Sonderweg". In Deutschland waren im Laufe von 60 Jahren etwa 35 Reaktoren in Betrieb, und es gab (soweit wir wissen) keine Vorkommnisse, die als Unfälle (Stufe 4 oder höher) eingestuft werden.
Für die Befürworter des vollständigen Ausstiegs schlagen dennoch die bekannten Sicherheitsfragen zu Buche. Abgesehen von der Frage des Atommülls gibt es keine Unternehmen, die ein AKW versichern und im Falle eines schweren Unfalls haften. Aus deutschen Kernkraftwerken sind etwa 20 meldepflichtige Vorkommnisse (bis Stufe 3) bekannt.
Ohne hier das Für und Wider des Atomausstiegs zu bemühen: Durch eine "ideologische" Brille schauen wir alle. Es sind nicht immer nur die anderen, die einer Ideologie aufgesessen sind! Vermutlich ist eine Position besser als die andere, aber die andere als Ideologie zu brandmarken, ist zu billig. Diese Erkenntnis ist ein Beitrag, den die christliche Theologie hier leisten kann. Denn immer wieder wird auch Christen vorgehalten, dass sie unbeweisbare Annahmen machen – woraufhin die Antwort angebracht ist, dass das alle Menschen tun. Anders geht es gar nicht.
Bleibende Unschärfe
Bei den verschiedensten Themen, und so auch bei der Kernkraft machen wir alle Vorannahmen, die so oder so ausfallen, von denen wir aber schlecht zeigen können, dass sie genau so und nicht anders lauten müssen. AKWs sind hochtechnologische Anlagen, die wir Normalbürger:innen nicht aus eigener Erfahrung einschätzen können. Es bleibt eine eigenartige Mehrdeutigkeit: Das Risiko eines schweren AKW-Unfalls in Deutschland schien zuletzt sehr gering; die möglichen Folgen dagegen wären sehr schwerwiegend.
Weil unser intuitives Entscheiden über die Kernkraft zu keinem zwangsläufigen, neutralen Urteil kommen kann, ist die Kernkraft stets für sehr verschiedene Interpretationen offen. Das liegt in der Natur der Sache, und diese Unschärfe lässt sich nicht durch mehr Wissenschaft beseitigen. Deshalb stellen die individuellen Vorannahmen – oder wenn man will, Ideologien – immer die Weichen dafür, welche Risiken wir in den Vordergrund rücken und wie wir sie einberechnen.
Ein christliches Urteil?
Auch wenn man die Kernkraft in der christlichen Ethik diskutiert, bleibt der Vorbehalt: Es ist nicht eindeutig, welche Risiken wie in das Urteil einfließen müssen. Als Kernkraftgegner:innen vor etwa 30 Jahren den schöpfungstheologischen Slogan "bebauen und bewahren" hochhielten, war das legitim. In einer verkrusteten Gesellschaft herrschte ein Demokratie-Defizit, und dennoch fällte die Politik schwerwiegende Entscheidungen. Deshalb war es zu dem Zeitpunkt legitim, mit der vollmundigen, religiös-politischen Botschaft zu einer Öffnung der Debatte zu nötigen. Inzwischen hat sich aber die gesellschaftliche Situation deutlich gewandelt, und die Berufung auf die Schöpfungstheologie allein kann nicht als Argument in der Atom-Debatte gelten.
Fazit 1: Abbauen statt bewahren!
Was kann also eine christliche Position zur Debatte um die Kernkraft beitragen? Neben der Klärung zum Thema "Ideologie" (siehe oben) hätte ich noch einen Vorschlag. Doch zunächst das Problem: Soll man bei die letzten drei AKWs nun sofort mit dem Abbau beginnen, oder soll man sie warten und als Reserve erhalten für den Fall, dass man sie doch noch einmal braucht?
Das Erhalten der AKWs erfordert spezialisiertes Personal und kostet Geld. Außerdem ist vor einem möglichen Anschalten ein Vorlauf von mindestens einem oder anderthalb Jahren nötig zur Beschaffung der Brennstäbe. Und hat man die AKWs eine Weile in Bereitschaft gehalten, ist noch kein Gramm CO2 eingespart.
Das Geld, das eine Atom-Reserve benötigt, lässt sich sinnvoller z.B. in die Wärmedämmung unserer Gebäude investieren. Hier kann man sofort Treibhausgase sparen. Bauen wir also die AKWs ab, solange es noch Personal gibt.
Fazit 2: eine globale Perspektive!
Ich selbst finde es sinnvoll, dass Deutschland nun mit den Erneuerbaren alles auf eine Karte setzt. Aber aus christlicher Sicht sollte man sich allgemein gut damit anfreunden können. Denn einerseits sind Christ:innen durch das Band des Glaubens mit den verschiedensten Menschen in allen Teilen der Welt verbunden. Der Ökumenische Rat der Kirchen feiert dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. In den Debatten um die Atombombe waren es sehr oft Christen, die die weitere internationale Perspektive von Hunger und Entwicklung einbrachten. Andererseits ist es aber erschreckend, wie provinziell und eurozentrisch wir unsere Kernkraft-Debatte führen!
Wie soll man sich eigentlich die Energiepolitik in anderen Ländern vorstellen, die sich die hochempfindliche Nukleartechnik nur schwer leisten können oder bei denen die Sicherheitsmechanismen aufgrund instabiler Verhältnisse weniger robust ausfallen dürften? Wollen wir low-budget Experimenten mit der Kernkraft zusehen? Was aber ist ihre Perspektive, wenn ein Hochtechnologie-Land wie Deutschland die Energiewende nicht gebacken kriegt? Andererseits: welch ein Gewinn, wenn Erfahrungen und technische Lösungen aus Deutschland in anderen Teilen der Welt zu einem nachhaltigen Energie-Sektor beitragen können!