Die Erkenntnis war schockierend: Mit 32 Jahren wurde Georg Mendel (Name geändert) klar, dass er Kinder sexuell anziehend findet. "Lange habe ich mich gegen diese Erkenntnis gewehrt, ich wollte sie einfach nicht wahrhaben", sagt der heute 65-Jährige aus Nordrhein-Westfalen. Zuerst dachte er, es handle sich nur um eine Phase. Doch dem war nicht so. Die Neigung verschwand nicht. Georg musste lernen, damit zu leben.
Pädophilie ist gar nicht so selten. "Den bislang erhobenen Daten zufolge wird sie auf bis zu ein Prozent der männlichen Bevölkerung geschätzt", sagte Maximilian von Heyden vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Damit sind bundesweit bis zu 250.000 männliche Erwachsene betroffen. Als "pädophil" diagnostiziert würden fast nur Männer.
Dass sich Menschen sexuell von Kindern angezogen fühlen, bedeute nicht zwangsläufig, dass eine Therapie notwendig ist. Sollte jedoch das Risiko bestehen, dass sie übergriffig werden, oder sollten die Betroffenen unter ihrer Neigung leiden, hilft das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
Auch Georg Mendel nahm am Angebot "Kein Täter werden" teil - nach jahrelangem seelischen Auf und Ab. Er hatte Tage, an denen die pädophile Neigung überhaupt keine Rolle spielte: "Ich selbst bin ja mehr als diese Neigung." Dann wiederum wurde der Wunsch nach Nähe zu Kindern allzu stark: "Aber mir war immer klar, dass dieser Wunsch unerfüllbar ist, da ich sonst mich und andere zugrunde richten würde."
Arzt empfahl Netzwerk "Kein Täter werden"
Mendel setzte sich intensiv damit auseinander, welche seelischen Folgen Missbrauch bei Kindern haben kann: "Ich wusste genau, was ich anrichten würde." Georg wollte kein Kind traumatisieren. 2014 war er an einem Tiefpunkt angelangt. Er dachte an Suizid. Schließlich wandte er sich an einen Arzt. Von ihm erfuhr er vom Angebot "Kein Täter werden". Hier erhielt Mendel, wie er sagt, echte Hilfe.
Das Netzwerk "Kein Täter werden" besteht aus mehreren regionalen Zentren für Menschen mit pädophiler Sexualpräferenz. Durch diese Zentren seien pädophil veranlagte Menschen im internationalen Vergleich relativ gut versorgt, sagt der Sexualmediziner von Heyden. Dennoch müssten Betroffenen manchmal weit fahren, um das nächste "Kein Täter werden"-Zentrum zu erreichen.
Betroffene fürchten sich vor Outing
Die Behandlungsangebote zielten auf eine Verhaltenskontrolle ab. Die Interventionsstrategie könne sehr komplex sein. Sie könne Psychotherapie, Paarberatung und Pharmakotherapie umfassen, erklärt der Mediziner der Charité.
Betroffene scheuen sich oft, Einrichtungen von "Kein Täter werden" aufzusuchen, weil für sie allein das Betreten eines solchen Zentrums das Outing ihrer Neigung bedeutet. Lieber wären ihnen therapeutische Angebote, die sich an alle Menschen mit Störungen richten. "Doch viele Therapeuten möchten diese Patienten nicht in ihrer Praxis haben", sagt Franziska Mathäus, Systemische Therapeutin und Kriminaltherapeutin, die in München eine Praxis für pädophil veranlagte Menschen betreibt.
Das Wichtigste im therapeutischen Kontakt sei für die Betroffenen, alles erzählen zu können, was sie empfinden und was sie belastet, ohne verurteilt zu werden. Franziska Mathäus erklärt ihren Patienten, dass sie sich ihre Neigung nicht ausgesucht hätten. In der Behandlung gehe es ausdrücklich nicht darum, die Neigung "wegzutherapieren". Ziel sei vielmehr, Strategien zu entwickeln, um zufrieden mit der sexuellen Präferenz leben zu können und niemandem Schaden zuzufügen.
Die Berliner Medienanalytikerin Daniela Stelzmann kritisiert die mediale Darstellung von Pädophilen. Es werde weitgehend ausgeblendet, dass viele verantwortungsvoll mit ihrer sexuellen Neigung umgehen. Sie weist darauf hin, dass 60 Prozent aller Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern auf das Konto von Erwachsenen gingen, die nicht pädophil seien.