epd: Die Corona-Maßnahmen sind fast alle aufgehoben. Es gibt aber nach wie vor "Querdenker"-Veranstaltungen. Wie wird dies begründet?
Matthias Pöhlmann: Corona ist nicht mehr das Hauptthema, aber es sind neue Themen hinzugekommen. Das ist der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, Inflation und allgemein soziale Ängste, die im Hintergrund stehen. Sie greifen alle Themen, die die Menschen beschäftigen, alle Ängste und Befürchtungen auf. Es geht darum, die Wunden in dieser Gesellschaft offen zu halten, um Menschen für das eigene Anliegen anzusprechen. Das starke Misstrauen gegenüber der Regierung, gegenüber den Repräsentantinnen und Repräsentanten soll entsprechend forciert werden.
Wen zieht das denn an?
Matthias Pöhlmann: Zum einen Verschwörungsgläubige, die sagen, dahinter läuft eine eigene Agenda ab. Ganz großes Stichwort ist der "Great Reset". Zum anderen gibt es ganz normale Menschen, die nicht so einen ideologischen Überbau haben, die aber die einzige Möglichkeit, ihren Unmut zu äußern, darin sehen, sich an solchen Demonstrationen zu beteiligen. Oftmals wissen sie gar nicht, mit wem sie da zusammenlaufen oder sie wollen es nicht sehen. Das ist auch ein Problem.
Trägt der Ukraine-Krieg viel dazu bei, auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft anzusprechen?
Matthias Pöhlmann: So ist es. Viele Menschen haben Angst, dass sich dieser Krieg ausweitet. Wir haben ja im Moment eine Diskussion darüber, welcher Weg eigentlich zielführender ist: Mehr Waffenlieferungen oder eher die pazifistische Deutung? Und vor diesem Hintergrund gibt es natürlich Demonstrationen, die sagen: Schluss! Was hat der Krieg mit uns zu tun? Wir möchten jetzt Frieden haben. Die immensen Opfer, die die Ukrainer und Ukrainerinnen erleiden müssen, blenden sie aus. Und es gibt auch einzelne Akteure, die das befeuern. Daniele Ganser etwa, der immer als Historiker und Friedensforscher vorgestellt wird, der eine wichtige Galionsfigur verschwörungsideologischer und rechts-esoterischer Akteure ist.
Abgesehen von Ganser - sehen wir auf den jetzigen Demos die gleichen Akteure wie zu Corona-Zeiten?
Matthias Pöhlmann: Die Promis der Querdenker-Szene sind teilweise verschwunden und ins Ausland abgewandert. Andere Akteure tauchen plötzlich wieder in neuen Zusammenhängen auf, also zum Beispiel Markus Haintz, dieser Rechtsanwalt, der auch auf Querdenker-Bühnen war.
Diese Leute scheinen sich immer ganz gut an die jeweilige Themenlage anzupassen.
"Gerade die moderne Esoterik hat ein ganz spezielles Sensorium für Krisenlagen entwickelt, gesellschaftlich wie individuell"
Matthias Pöhlmann: In der Tat. Gerade die moderne Esoterik hat ein ganz spezielles Sensorium für Krisenlagen entwickelt, gesellschaftlich wie individuell. Sie ist sehr marktkonform ausgerichtet, das heißt bedürfnisorientiert. Ich beschäftige mich hauptberuflich seit 1999 damit, und es ist ihr immer gelungen, relevante gesellschaftsrelevante Themen zu besetzen: Beim Thema Heilung, beim Thema Ernährung, vielleicht erinnern Sie sich: Lichtnahrung, Prana.
Dann tauchte um die Jahrtausendwende plötzlich ein neues Zauberwort auf: Indigo-Kinder - Kinder mit einer indigoblauen Aura, von der fachärztlichen Seite wurde ADHS diagnostiziert. Nach esoterischer Deutung waren es in Wahrheit Künder eines neuen Zeitalters. Das zieht sich bis heute durch bei etlichen Esoterikern und Verschwörungstheorien, dass man die politische Perspektive entwickelt hat und versucht, die aktuellen Geschehnisse durch die esoterische Brille zu deuten, kombiniert mit Verschwörungstheorien.
Wo sehen Sie bei all dem, was sich da zusammenbraut, die größte Gefahr für unsere Gesellschaft?
"Das ist ja das Grundproblem von Verschwörungstheorien, dass sie Opfer fordern, weil sie stets einen Sündenbock konstruieren"
Matthias Pöhlmann: In der Politikverdrossenheit und dem Misstrauen. Im Zusammenhang mit den Querdenker-Demos haben die Wissenschaftler von einer bunten Misstrauensgemeinschaft gesprochen. Wir wissen nicht, welche Krisensituationen noch auf uns zukommen. Aber Krisenzeiten sind immer der ideale Nährboden für das Entstehen von Verschwörungstheorien und für die Pflege von bestimmten Feindbildern. Das ist ja das Grundproblem von Verschwörungstheorien, dass sie Opfer fordern, weil sie stets einen Sündenbock konstruieren.
Täuscht der Eindruck, dass Verschwörungserzählungen in den letzten Jahren massiv zugenommen haben?
Matthias Pöhlmann: Etliche Forscher sagen, nein, sie haben während der Corona-Pandemie zahlenmäßig nicht zugenommen, aber sie waren medial stärker präsent und haben eine viel stärkere existenzielle Wucht entwickelt. Wenn ich vor zehn Jahren Vorträge über Verschwörungstheorien gehalten habe, war das Staunen und das Schmunzeln im Publikum sehr groß. Aber während der Pandemie und danach gab's immer wieder jemand, der dann aufstand und sagte, ich habe dieses Problem im eigenen Verwandten- oder Familienkreis, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
Was schlagen Sie für den Umgang mit Verschwörungsgläubigen vor?
Matthias Pöhlmann: Wir haben noch kein Format gefunden, wie man mit diesen Menschen sprechen kann. Runde Tische haben zu keinem positiven Ergebnis geführt. Meistens funktioniert es nur im persönlichen Gespräch, wenn keine Öffentlichkeit da ist, und wenn man nicht versucht, Verschwörungstheorien zu widerlegen, sondern eher nach dem dahinterliegenden Motiv fragt: Welches Lebensthema spielt da eventuell eine Rolle? Eine Frau, die lange selbst in einer verschwörungsideologischen Gruppe gewesen ist, hat mir mal geraten, positive lokale Projekte anzustoßen und Verschwörungsgläubige so sinnvoll einzubinden. Man muss natürlich vorab genau abklären, dass man nicht wieder über Chemtrails oder eine andere Verschwörungstheorie diskutiert, sondern sagt, wir wollen etwas Positives bewirken. Ihr wollt doch eigentlich auch eine gute, funktionierende Gesellschaft haben.
Verschwörungstheorien haben also nicht unbedingt zugenommen - aber kann man sagen, dass sie weiter in den Mainstream hineinreichen?
"Wir leben auf einem Großmarkt der Wahrheiten, das heißt, da kann jeder viel behaupten und findet seine Zuhörerinnen und Zuhörer"
Matthias Pöhlmann: Offensichtlich ja, und das hängt, denke ich, auch mit der Pandemie zusammen, weil diese zu einem absoluten Kontrollverlust geführt hat. Etliche Menschen hatten dann plötzlich Zeit. Man saß zu Hause, und viele erzählen mir, dass sie angefangen haben, zu recherchieren, und meistens natürlich auf den falschen Kanälen. Wir leben auf einem Großmarkt der Wahrheiten, das heißt, da kann jeder viel behaupten und findet seine Zuhörerinnen und Zuhörer.
In der Vergangenheit war es so, dass man im Umfeld oder in dörflichen Strukturen schon wusste, da gibt's einen am Stammtisch, der redet ein bisschen komisch daher. Aber jetzt haben wir eine Vielfalt an sozialen Medien, wo man das in die Welt hinausposaunen kann. Die Komplexität dieser Welt ist für manche Menschen eine unheimliche Zumutung, und da entsteht manchmal diese Sehnsucht nach einfachen Antworten, das wirkt dann sehr attraktiv.
Besteht eigentlich die Gefahr, dass durch Aufklärung über obskure Bewegungen diese überhaupt bekannt werden?
Matthias Pöhlmann: Ja, das wurde auch schon von Kommunikationswissenschaften kritisiert, dass die Verschwörungstheorien durch intensive Berichterstattung zu viel Aufmerksamkeit bekommen haben und damit möglicherweise für manche auch attraktiv erscheinen können. Ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Man muss eben auch beschreiben, was ist. Man muss aufklären und vor allem auch schauen, wohin Verschwörungstheorien führen können.
"Wir wissen ja, dass es auch Mordfälle gegeben hat, motiviert durch Verschwörungsglauben"
Wir wissen ja, dass es auch Mordfälle gegeben hat, motiviert durch Verschwörungsglauben. Wenn man überall die Feinde wittert, dann führt das dazu, dass die Hemmschwelle sinkt, dass man Gewalt irgendwann als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele betrachtet. Verschwörungsmythen haben oft beinahe religiöse Züge.
Ist das auch eine besondere Herausforderung für die Landeskirche?
Matthias Pöhlmann: Absolut. Ich sage von mir, ich bin ein gläubiger Realist, und es ist wichtig, die Maxime des Apostels Paulus mit einzubeziehen: "Prüfet alles und behaltet das Gute." Das heißt, wir dürfen den Verstand einsetzen als gute Gabe Gottes, und ich denke, wir sind auch der Aufklärung verpflichtet. Natürlich darf Wissenschaft nie absolut gesetzt werden, es braucht immer eine gute Balance.
Was heißt das konkret?
Matthias Pöhlmann: In dem Moment, wenn Wissenschaft alle Lebensbereiche erklären will, ist es übergriffig, genauso, wie wenn Religion sich anmaßen würde, alle naturwissenschaftlichen Dinge erklären zu wollen. Da wäre man schnell beim Kreationismus. Ich denke auch, dass es wichtig ist, dass wir einen guten Umgang mit evidenzbasierter Medizin pflegen. Es geht sehr schnell, dass auf die sogenannte Schulmedizin geschimpft wird - ein unmöglicher Begriff, der im Nationalsozialismus verwendet wurde, um eben die nach Meinung der Nazis von den Juden dominierten Medizin in ihrem Anspruch zurückzudrängen.
Ist Verschwörungsglaube wie eine neue Religion?
Matthias Pöhlmann: Verschwörungstheorien kommen letztendlich ohne Gott aus. Verschwörungstheorien sind ein negativer Glaube, und der christliche Glaube ist etwas Positives. Der lebt ganz stark vom Vertrauen. Glaube heißt, Vertrauen setzen in einen Gott, der den Menschen in seiner Begrenztheit und in seiner Liebenswürdigkeit annimmt. Und das ist der große Unterschied gegenüber Verschwörungstheorien.