Eines der Mädchen aus dem Pulk der Schülerinnen und Schüler, der sich an diesem Nachmittag in den Bus der Linie 50 in Göttingen quetscht, scheint einer Panikattacke nahe. Sie hat ihr Handy zu Hause vergessen und war deshalb während des ganzen Schultags ohne Verbindung zu ihren Chatpartnern und vor allem zu ihrem neuen Freund. "Der denkt jetzt bestimmt, ich hab‘ nicht zurückgeschrieben, weil ich ihn nicht mehr gut finde", presst sie hervor, mit erstickter Stimme und doch so laut, dass es fast alle Fahrgäste mitbekommen.
Gut möglich, dass die Schülerin unter Nomophobie leidet. Nomophobie steht für "no mobile phone phobia" und ist die Angst, vom eigenen Smartphone getrennt und für andere nicht erreichbar zu sein. Nach einer aktuellen Erhebung der Privaten Hochschule (PFH) Göttingen ist Nomophobie in Deutschland weit verbreitet. Die Umfrage ergab, dass fast die Hälfte von 807 Teilnehmenden (49,4) Prozent ein mittleres Maß an Nomophobie aufwies, bei weiteren 4,1 Prozent war es eine schwere Nomophobie.
"Geht das Handy verloren oder ist man aufgrund eines Funklochs oder eines leeren Akkus kurzzeitig nicht erreichbar, kommt es zu einem subjektiv verschobenen übermäßigen Angstempfinden", beschreibt Studienleiterin Yvonne Görlich die Störung. Ohne ihr Smartphone fühlten sich Betroffene unwohl, sie seien nervös, ängstlich oder gereizt. Görlich ist an der PFH Professorin für Psychologische Diagnostik und Differentielle Psychologie.
Frauen leiden der Erhebung zufolge etwas häufiger unter Nomophobie als Männer. "Wir können davon ausgehen, dass Frauen aufgrund eines stärkeren Bedürfnisses nach sozialen Beziehungen das Smartphone stärker zur Kommunikation nutzen und somit höhere Nomophobie-Scores erzielen", interpretiert Görlich das Ergebnis der Erhebung. Bei der Häufigkeit der Smartphone-Nutzung gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern, doch seien Frauen längere Zeit mit ihrem Handy beschäftigt als Männer.
Erst Panik, dann Entspannung
Nomophobie betrifft nicht nur junge Leute. "Wenn ich mein Handy vergessen habe, fühle ich mich im ersten Moment aufgeschmissen und hilflos", erzählt eine 33-jährige Lehrerin dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Es fängt schon damit an, dass ich dann nicht weiß, wie spät es ist." Nach der ersten Panik werde sie allerdings entspannter und empfinde das fehlende Smartphone bisweilen sogar als entlastend.
Eine 63 Jahre alte Familientherapeutin fühlt sich "auf einer Stressskala von 1 bis 10 bei 6, wenn ich mein Smartphone vergessen habe". Vor allem für ihre Angehörigen möchte sie stets erreichbar sein: "Ich habe sehr alte Eltern und mehrere Geschwister, es gibt da aktuell viel zu diskutieren und zu entscheiden". Wenn sie befürchtet, das Handy nicht nur verlegt, sondern verloren zu haben, ist der Stress noch größer. "Dann werde ich richtig panisch, wegen eines möglichen Datenverlustes", sagt die Therapeutin.
Obwohl es Überschneidungen mit der Smartphone- und Internetsucht gibt, ist Nomophobie ein eigenständiges Phänomen. "Smartphone-Abhängigkeit zählt zu den Suchterkrankungen, während Nomophobie eine Angststörung ist", erläutert Görlich. Die Betroffenen erlebten in erster Linie einen Kontrollverlust über ihre Smartphone-Nutzung, der sich auf andere Bereiche ihres Lebens auswirke.
Noch ist Nomophobie keine anerkannte Krankheit. Für Görlich liegt aber die Frage nahe, "ob Nomophobie in die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) oder das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM) aufgenommen werden sollte und damit als Angststörung anerkannt wird". Im ICD seien schließlich auch andere spezifische Phobien wie beispielsweise Arachnophobie, also die Angst vor Spinnen, aufgelistet. In einer weiteren Studie will die PFH nun untersuchen, inwieweit eine kontrollierte Smartphone-Nutzung Nomophobie, aber auch Depressions-, Angst und Stresssymptome reduzieren sowie Wohlbefinden und Kreativität fördern kann.