Tafel-Chefin Sabine Werth schaut im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) schaut zurück und spricht über Lebensmittelverschwendung, das sogenannte Containern und die Tafeln als Lückenbüßer.
epd: Im Schnelldurchlauf, was hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten verändert?
Sabine Werth: Wir wollten damals in einer Gruppe von Berliner Frauen, in der ich Mitglied war, ein Obdachlosen-Projekt starten. Wir haben es "Berliner Tafel" genannt, aber es bezog sich nur auf Obdachlose. Das ist der erste Unterschied zu heute. Heute unterstützen wir mehr als 400 soziale Einrichtungen mit Lebensmitteln. Dann habe ich gemerkt, dass die Mädels nur kamen, wenn die Presse kam, ansonsten war ich alleine. Da habe ich gedacht, das kann ich auch anders. Aber der Name "Berliner Tafel" war gesetzt. Wir wollten denjenigen in dieser Stadt eine Tafel decken, die es sich selbst nicht leisten können. Und das ist der Grundsatz bis heute.
Wie kamen Sie auf die Idee?
Werth: Die Idee hatten wir von der Initiative "City Harvest New York". Eine aus unserer Gruppe kam mit einem Zeitungsartikel. Darin stand, dass sie in New York abends nach Empfängen Buffets absammeln und das Essen zu den Obdachlosen auf die Straße bringen. Da dachten wir, das können wir auch. Wir haben dann 23 Obdachlosen-Einrichtungen eingeladen und ihnen die Idee vorgestellt. 21 fanden die Idee toll. Zwei sagten, das sei politisch vollkommen unkorrekt. Der Senat habe für die Finanzierung von Obdachlosen-Projekten zu sorgen. Sie wollten nicht, dass so ein Haufen wild gewordener Weiber ihre politischen Strategien kaputt machen.
Die Zahlen haben sich seitdem verändert, wie auch die Rahmenbedingungen.
Werth: Damals gab es diese 23 existierenden Obdachlosen-Einrichtungen plus einer gewissen Kältehilfe im Winter mit Notübernachtungen in verschiedenen Kirchengemeinden. Das waren aber nicht viele. Das gesamte Hilfesystem für Obdachlose war bei Weitem noch nicht so ausgebaut wie heute. Insofern waren die 21 Einrichtungen eine überschaubare Sache für uns.
Die Debatte, ob Tafeln eigentlich den Job des Sozialstaats übernehmen und als Lückenbüßer agieren, gibt es ja bis heute. Sie stehen zwischen staatlichen Einrichtungen und freien Trägern der Wohlfahrtspflege.
Werth: Natürlich sind wir in gewisser Weise Lückenbüßer. Und zwar da, wo die Politik versagt. Menschen haben durch Arbeitslosenunterstützung oder durch das neue Bürgergeld kein ausreichendes Auskommen. Damit lässt sich das Leben nicht annähernd sorgenlos gestalten. Dann versagt die Politik beim Thema Lebensmittelverschwendung. Es werden immer noch viel zu viele Lebensmittel weggeschmissen. Dabei verschwindet übrigens der größte Teil der Lebensmittel in den Privathaushalten im Müll.
Wie kann das sein?
Werth: Meines Erachtens ist die Information über Lebensmittel unterirdisch. Die Leute glauben immer noch, das Mindesthaltbarkeitsdatum ist das Wegwerfdatum. Und so lange das geglaubt wird, freut sich der Handel. Die Leute schmeißen ihren Joghurt mit abgelaufenem MHD in den Eimer und laufen los, um das gleiche sofort wieder zu kaufen.
Was halten Sie eigentlich vom "Containern", also dem "Retten" von Lebensmitteln aus den Müllcontainern von Lebensmitteldiscountern?
Werth: Das "Containern" muss meines Erachtens so lange straffrei sein, wie das Wegwerfen von Lebensmitteln straffrei ist. Entweder beide Seiten werden bestraft oder keine. Aber solange einfach so Lebensmittel in Containern landen können, muss auch jede Form von Lebensmittelrettung legal sein. Wir sind bei 1.400 Stellen in der Woche - bei allen Filialen von Lidl, Aldi, einfach bei allen, die uns wollen. Deshalb begreife ich nicht, dass noch Lebensmittel weggeworfen werden.
Der Bundesverband der Tafeln fordert immer wieder eine Grundfinanzierung der Tafeln durch den Staat - wie stehen Sie dazu?
Werth: Ich bin grundsätzlich gegen eine staatliche Finanzierung der Tafeln als Dauerförderung. Dann sind wir wirklich die Lückenbüßer. Dann sind wir in der Pflicht: In dem Augenblick, in dem wir staatliche Gelder bekommen, müssen wir leisten. Wir haben den Tafel-Grundsatz, dass wir gespendete Lebensmittel verteilen. Wenn wir vom Staat Geld für die Versorgung von Menschen bekämen, dann müssen wir das übernehmen. Und wenn wir dann nicht genügend Lebensmittel gespendet bekommen, müssten wir zusätzliche Lebensmittel kaufen. Unser Grundsatz lautet aber: Gespendete Lebensmittel. Wir müssten also unsere Grundsätze infrage stellen und könnten die Politik dann auch nicht mehr kritisieren. Die Hand, die mich füttert, beiße ich nicht!
Haben Sie denn Bedenken bei der Zusammenarbeit mit großen Konzernen, denen die Tafeln etwa die Entsorgungskosten abnehmen?
Werth: Wir haben grundsätzlich keine roten Linien beim Beziehen der Lebensmittel, solange die Firma auf der Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung arbeitet. Wenn also ein Unternehmen etwa wegen des Umgangs mit dem Personal in der Kritik steht, dann muss das intern geklärt werden. Wir sind nicht die Moralapostel. Solange eine Firma nicht verurteilt worden ist, arbeiten wir mit ihr zusammen.
Im vergangenen Jahr sind immer mehr Menschen zu den Ausgabestellen der Tafeln gekommen.
Werth: Vor Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 haben wir etwa 40.000 Menschen in der Woche mit Lebensmitteln über die Ausgabestellen von "Laib und Seele" unterstützt. Heute sind es 80.000 Menschen. Diese Steigerung um 100 Prozent macht sich natürlich bemerkbar. Es gibt weniger für den Einzelnen. Wir haben ja nicht zwangsläufig mehr Lebensmittel. Im Gegenteil, zwischendurch war es richtig schlecht. Inzwischen sind wir selbst gewaltig in die Akquise gegangen und bekommen jetzt große Bestände, nicht unbedingt nur an Lebensmitteln, sondern etwa Windeln. In den Ausgabestellen verteilen wir jetzt eine bunte Mischung.
Wie viele Ausgabestellen haben Sie aktuell?
Werth: Wir haben 2005 mit unseren ersten Ausgabestellen von "Laib und Seele" begonnen. Das ist eine Aktion der Berliner Tafel, der Kirchen und des RBB. Jetzt haben wir 46 Ausgabestellen in den Kirchengemeinden. Mit drei weiteren Gemeinden verhandeln wir gerade. Wir gehen davon aus, dass wir mit 50 Ausgabestellen klarkommen. Außerdem haben wir noch acht sogenannte Pop-ups. Dort gibt es jetzt in der Notsituation einmal in der Woche Lebensmittel. Die Orte geben wir nicht bekannt. Wer in einer Ausgabestelle nichts mehr bekommt, bekommt einen Zettel mit der nächstgelegenen Pop-Up-Adresse.
2018 sorgte die Essener Tafel für Aufregung, weil angeblich Menschen mit nicht-deutschem Pass keine Lebensmittel bekommen sollten. Erleben Sie Verteilungskämpfe?
Werth: Natürlich müssen auch unsere Ausgabestellen vorübergehende Aufnahmestopps verhängen. Die beziehen sich dann aber auf alle Menschen und nicht auf einzelne Personengruppen. Zu bestimmten Zeiten werden keine neuen Kundinnen und Kunden aufgenommen. Da ist der Pass, der dahintersteckt, völlig egal. Wir verteilen alles, was wir gesammelt haben. Und wenn es alle ist, ist alle. Auch hier gilt: Wir sind nicht der Büttel des Berliner Senats. Da müssen leider unsere Ehrenamtlichen durch. Die sind dann in der Situation, den notleidenden Menschen zu erklären, dass es nichts mehr gibt.