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Glückliche Schafe? Im Internet wird über die Hinrichtung von Schaf Norbert abgestimmt.
Viel Lärm ums Schaf: "Keine Kunst, sondern Marketing"
Der Medienwissenschaftler Rainer Leschke über die Tötungs-Abstimmung im Internet
Zwei Künstler aus Berlin lassen über den Tod eines Schafes im Internet abstimmen. Der Medienwissenschaftler Rainer Leschke meint, hinter der Aktion stecke ein rein ökonomisches Kalkül, es werde gezielt Aufmerksamkeit produziert.
12.05.2012
evangelisch.de
Lilith Becker

Was war ihr erster Gedanke, als sie von dem Experiment der zwei Künstler gehört haben?

Rainer Leschke: Dass es komplett erwartbar und strukturell eigentlich ziemlich langweilig ist. So produziert man klassisch einen Skandal. Dem Experiment liegt insofern eine Skandallogik zugrunde. Wenn ich einen Skandal hätte provozieren wollen, dann hätte ich es genauso gemacht.

Aber langweilig ist das Experiment anscheinend für Medienwissenschaftler, wie Sie einer sind. Denn viele andere fallen ja darauf rein?

Dass die Rezipienten darauf hereinfallen gehört zur Logik des Skandals. Die Provokation muss funktionieren und sie tut es durch die Rezipienten. Die Aufregung ist daher Teil der Aktion und des Mechanismus des Skandals.

Ist das eine Struktur, die sich durch die neuen Möglichkeiten im Netz ergibt?

Leschke: Nein, die Struktur selbst ist uralt. Die Kirchen arbeiten beispielsweise mit dem Kreuz als Symbol, was nichts anderes als ein Folterinstrument ist. Das ist durchaus problematisch. Denn es hat dieselbe Logik wie das Experiment mit der Guillotine. Man provoziert dadurch, dass man ein Folterinstrument zum Symbol für etwas macht, was eigentlich nicht auf Folter abzielt. Man arbeitet also mit einer kalkulierten Provokation, um Aufmerksamkeit zu generieren. Die Techniken und Strategien dahinter sind also durchaus analog. Für mich ist das Experiment deshalb nicht besonders überraschend. Es ist insbesondere auch ästhetisch nicht sonderlich interessant, sondern erwartbar.

Glauben Sie nicht, dass das Schaf Norbert tatsächlich sterben könnte?

Leschke: Ja und? Selbst wenn. Wir schlachten täglich wie viele tausend Schafe? Der Mechanismus, der da läuft, ist klassisch. Das erste, was die Akteure beispielsweise machen, ist, dass sie das normative Risiko dadurch erhöhen, dass sie dem Tier einen Namen geben. Sie personalisieren es und erhöhen damit die Hemmschwelle für seine Tötung. Das können sie auf jedem Bauernhof beobachten: Sobald die Tiere einen Namen haben, haben die Kinder Schwierigkeiten damit, wenn die Tiere sterben sollen. Wir haben als Gesellschaft verabredet, dass wir Fleisch essen.

Die Legitimation des Tötens von Tieren besteht darin, dass sie der Ernährung des Menschen dienen und wir davon ausgehen, dass Menschen mehr wert sind als Tiere. Es handelt sich also um ein Wertkalkül: Höhere Werte stechen niedrigere. Die Legitimation, ein Tier jetzt einfach so zu töten, wie das in dem Experiment der Fall wäre, bestünde nur dann, wenn der ganzen Aktion ein höherer kultureller Wert zugesprochen werden könnte. Der könnte darin bestehen, dass zum Beispiel auf irgendetwas gesellschaftlich Relevantes aufmerksam gemacht würde.

Hinter dem Experiment mit dem Schaf steckt ein rein ökonomisches Kalkül

Im April hat ein Berliner Verwaltungsgericht ein Urteil gefällt, laut dem es verboten ist, Tiere für die Kunst zu töten.

Leschke: Also gut, wie sicher Gerichte in ihrem ethischen Urteil sind, das ist durchaus eine Sache für sich. Das müsste erst einmal geklärt werden. Aber prinzipiell halte ich das nicht unbedingt für eine ethisch relevante Norm. Wir müssen uns erst einmal die Logik der ganzen Geschichte anschauen. Die Kunst hat seit 250 Jahren, also etwa seit der Aufklärung, einen Sonderstatus. Dieser wird dadurch legitimiert, und zwar gerade was die Verletzung von Normen angeht, dass die Gesellschaft im Bereich der Kunst anfängt, über ihre Grenzen nachzudenken. Und die Kunst ist definiert als der Sonderbereich, in dem Gesellschaften genau das tun können und tun dürfen. Und dazu darf und soll die Kunst gerade auch Normen verletzen.

Umgekehrt kann man dieses Privileg der Kunst auch marketingtechnisch ausnutzen. Wenn Sie beispielsweise sehr viel Gewalt in ein Medienprodukt integrieren wollen, um möglichst hohe Aufmerksamkeit für Ihr Medienprodukt zu erzeugen, dann müssen Sie zugleich immer auch Kunstsignale aussenden. Aufmerksamkeit stellt im Medienbereich Kapital dar und ist daher ökonomisch interessant.
 
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Gewalt ist daher attraktiv, zugleich aber gesellschaftlich nicht sonderlich gut legitimiert. Wenn Sie also gewalthaltige Medienprodukte machen wollen, um damit Aufmerksamkeit zu erzielen, und Sie gleichzeitig nicht geächtet und in der Folge aus dem Markt verdrängt werden wollen, dann müssen Sie Ihr Medienprodukt zugleich mit höheren Werten wie etwa der Kunst versorgen. Sobald jemand anfängt, über das Medienprodukt zu schreiben und dabei auf seine ästhetische Dimension abzielt, dann fällt das Ganze automatisch unter den Kunstvorbehalt. Das funktioniert im Mediensystem praktisch alltäglich. Sie werden bei sehr vielen, sehr gewalthaltigen Filmen sehen können, dass diese massiv mit Ästhetik-Signalen arbeiten. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Film Natural Born Killer.
 
Der hat eine Umwertung der Werte vorgenommen, die von der Struktur her höchst problematisch ist – die Täter werden letztlich nicht zur Verantwortung gezogen. Der Film sendet aber zugleich jede Menge Ästhetik-Signale aus, um in den Kunstdiskurs hineinzukommen. Da will er nicht hinein, weil er ästhetisch besonders wertvoll sein will, sondern schlicht und einfach, weil damit die Gewalt transportiert werden kann, die erforderlich ist, damit der Film Kasse machen kann. Das heißt, hinter der ganzen Geschichte steht ein rein ökonomisches Kalkül. Und bei dem Experiment mit dem Schaf ist das genauso. Es handelt sich um ein rein ökonomisches Kalkül.
 
Es wird ganz gezielt Aufmerksamkeit produziert und stellt daher im Kern eine Marketing-Leistung dar. In dieser Hinsicht verhalten sich die Akteure strategisch vollkommen rational und überlegt. Sie nutzen den Kunstvorbehalt, um eine Legitimation für ihre Generierung von Aufmerksamkeit zu bekommen. Ob das nun über die Marketingstrategie hinaus eine ästhetische Qualität hat,  ist dabei durchaus bestreitbar. Ich halte es von der Struktur her eher für langweilig. Die Akteure nutzen den Kunstvorbehalt aus, und der Rest ist dann erwartbar. Das Ganze läuft ab, wie ein Zug auf Schienen.
Die Kirche im Dorf lassen
Es gibt 3500 Beiträge auf Facebook zur Hinrichtungs-Aktion, circa drei Millionen Menschen haben über Norberts Leben abgestimmt und ein Sammler soll die Guillotine für 1,75 Millionen Euro gekauft haben. Beeindrucken Sie diese Zahlen gar nicht?
 
Leschke: Nein, überhaupt nicht, das Kalkül hat funktioniert. Gucken sie sich doch einmal die Einschaltquoten von gewalthaltigen Medienprodukten wie etwa Natural Born Killers an. Zudem verfügt die Attraktivität von Gewalt über eine gewisse Tradition und das heißt, man muss so etwas  in einen historischen Zusammenhang stellen. Die Guillotine war ein öffentliches Ereignis, quasi eine Art mediales Ereignis des 18. Jahrhunderts. Öffentliche Hinrichtungen gab es auch schon wesentlich länger. Diese öffentlichen Ereignisse wurden als Volksfeste inszeniert. Es gab also offensichtlich Sozialsysteme, übrigens sehr religiöse Sozialsysteme, die öffentliches Töten so in ihren kulturellen Ablauf integriert hatten, dass sie ihm Festcharakter geben konnten. Insofern muss man die Kirche im Dorf lassen, denn es handelt sich letztlich um nichts anderes als ein Marketing-Kalkül und sollte auch entsprechend bewertet werden.

Also sie halten es auch nicht für Kunst?

Leschke: Es ist komplett egal, für was ich es halte. Denn die Akteure benutzen den Kunstvorbehalt, also das Kunstsystem, um von der Struktur her einen Marketingeffekt zu generieren. Voraussetzung ist also, dass es irgendjemand für Kunst hält.

Muss Kunst nicht auch ökonomisch denken, um sich selber tragen zu können?

Leschke: Das ökonomische und das Kunst-System werden seit der Aufklärung als Gegensätze definiert.

Alle, die abstimmen, sind nichts anderes als die nützlichen Idioten oder die Schafe der Aktion

Sie haben gesagt, dass der entscheidende Punkt ist, wenn man etwas Kunst nennt, dass sie dazu führt, dass der Mensch über seine eigenen Grenzen nachdenkt. Wenn so viele Menschen über das Leben des Schafes nachdenken, haben die beiden dann nicht Kunst gemacht?

Leschke: Die Frage ist, ob sie das, was sie bei Facebook lesen können, für nachdenkenswert halten. Zumeist handelt es sich um eine banale Äußerung von Reflexen. Das Reflexionsniveau der Äußerungen ist ja denkbar gering. Es sind zumeist rein emotionale Kommentare.

Es gibt auch Menschen, die kritische Beiträge zum Tierschutz liefern, um die anderen zum Nachdenken zu bringen.

Leschke: Das ist natürlich ein legitimes Argument. Aber vieles läuft auf der Ebene des schlichten "Bashens". Das hat dann keinen reflexiven oder argumentativen Status. Denn grundsätzlich gilt: Es wird eine Provokation produziert, die von den Regeln her vorhersehbar abläuft. Die oft sehr emotionalisierten Äußerungen und Kommentare sind dabei ein Teil des Kalküls. Über die kann man sich dann selbstverständlich auch nicht beschweren, denn die hat man mit der Provokation hervorgerufen und muss sie daher mit in Kauf nehmen. Und ökonomisch hat das Ganze ja durchaus geklappt.

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Allerdings ist Kunst eigentlich immer als Gegensystem zur Ökonomie gedacht worden. Insofern dürfen ökonomische und ästhetische Kriterien nicht miteinander vermischt werden. Nützlichkeit im Sinne von Ökonomie ist nie Teil des Ästhetischen gewesen. Das Ästhetische bewegt sich seit der Moderne jenseits von Nützlichkeit. Das sehen Sie bereits bei Kant.

Also nochmal die Nachfrage: Sie halten das jetzt nicht für Kunst, weil Sie es für ökonomische Abzocke halten beziehungsweise mit ökonomischem Kalkül in Szene gesetzt?

Leschke: Ich halte das ästhetisch für ziemlich bieder, vor allem deswegen, weil es so kalkulierbar und erwartbar ist. Sie brauchen ja ein Kriterium, vor dessen Hintergrund Sie entscheiden können, ob etwas Kunst ist oder nicht. Und das Kriterium, das das Kunstsystem selbst hervorgebracht hat,  ist ein Originalitäts-Imperativ. Das heißt also, jedes Kunstwerk muss sich von jedem anderen Kunstwerk formal ästhetisch unterscheiden und muss in diesem Sinne innovativ sein.

Vollständig berechenbare Phänomene sind grundsätzlich nicht innovativ. Diese Aktion ist jedoch vollständig berechenbar und solche vollständig berechenbaren Aktionen gibt es im Medienbereich zuhauf. Der Aufklärungseffekt hält sich in engen Grenzen. Deshalb halte ich den innovativen Charakter dieser Aktion für äußerst gering. Und aus diesem Grunde würde ich sagen, es handelt sich nicht um Kunst, sondern um Marketing. Ästhetisch ist es trivial.

Ich vermute, Sie haben nicht über Norberts Schicksal abgestimmt?

Leschke: Ich begebe mich nicht in eine Struktur, in der ich selbst nur als Schaf funktionieren kann. Alle, die abstimmen, sind nichts anderes als die nützlichen Idioten oder die Schafe der Aktion.