Vor Beginn der diesjährigen rheinischen Landessynode zum Schwerpunktthema Bildung äußert sich der 52-Jährige im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) auch zu Kita-Finanzierung, konfessionellem Religionsunterricht und Reformüberlegungen in der zweitgrößten Landeskirche in Deutschland.
epd: Schwerpunkt der rheinischen Landessynode wird das Thema Bildung sein. Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Bildungspolitik: Wird genug getan und werden die richtigen Prioritäten gesetzt, um allen Kindern gute Bildungsmöglichkeiten zu schaffen?
Thorsten Latzel: Studien zeigen, dass wir an vielen Stellen noch Luft nach oben haben. Leider entscheidet die Herkunft in Deutschland nach wie vor stark über den Bildungsweg von Menschen. Vor allem Kinder mit Zuwanderungsgeschichte müssen besser integriert werden. Als Kirche ist uns wichtig, dass Bildung zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit beitragen und junge Menschen befähigen soll, in einer diversen, vielfältigen Gesellschaft zurechtzukommen. Das hat mit Hoffnung, Perspektiven und einer inneren Haltung zu tun.
Stichworte für unsere Synodenberatungen sind Vielfalt, Sensibilität und Offenheit für Gott. Aufgeklärte Religion ist eine Möglichkeit, mit Unterschiedlichkeit und der Fremdheit des anderen wertschätzend umzugehen.
Welche Bildungsangebote hat die rheinische Kirche selbst insbesondere für junge Leute?
Latzel: Wir haben unter anderem zehn weiterführende Schulen, an denen wir exemplarisch versuchen, unser Verständnis von Bildung umzusetzen. Das hat viel mit einem Stück Lebensbegleitung zu tun. Ein anderes Beispiel ist etwa der Konfirmandenunterricht, in dem wir mit jungen Menschen in der Pubertät arbeiten. Auch die offene Jugendarbeit ist hier wichtig. Ein riesiger Bereich sind die rund 800 Kitas, die wir auf dem Gebiet der rheinischen Kirche betreiben. Dazu kommen dann noch der ganze Bereich der Erwachsenenbildung oder der informellen Bildung. Von ihren Wurzeln her ist die evangelische Kirche insgesamt eine große Bildungsinstitution, welche die Mündigkeit jedes einzelnen Glaubenden stärkt.
Wie sieht die Zukunft der Kitas aus angesichts wachsender finanzieller Nöte in den Kommunen?
Latzel: Die finanzielle Belastung durch die hohe Inflation und steigende Energiekosten ist enorm. Die Kitas sind ja an sich eine kommunale Aufgabe, aber hier engagieren sich auch andere Träger wie die Kirchen und entlasten dadurch die Städte und Gemeinden. Das ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Jede kirchliche Kita kommt der Kommune billiger als eine eigene. Evangelische Kindertagesstätten haben dabei eine hohe Kompetenz und investieren viel Geld in ihre Einrichtung. Aber sie brauchen eine auskömmliche Finanzierung. Gerade im frühkindlichen Bereich kann Bildung sehr viel leisten, etwa im Blick auf Spracherwerb und die Vermittlung von Werten. Sie kann damit auch Defizite in sozial schwachen Familien ausgleichen.
"Gerade im frühkindlichen Bereich kann Bildung sehr viel leisten, etwa im Blick auf Spracherwerb und die Vermittlung von Werten."
Was heißt auskömmliche Finanzierung konkret?
Latzel: Das hängt von den einzelnen Bundesländern ab. Aber es geht darum, dass die hochqualifizierte Arbeit unserer anerkannten Träger weiter geleistet werden kann und sich diese Träger nicht aus Geldmangel zurückziehen müssen. Dadurch würde es für die Kommunen auch wieder teurer. Deshalb dringen wir in den Ländern und Kommunen darauf, dass Kostensteigerungen etwa bei der Energie und durch zusätzliche Angebote im nötigen Maß gefördert werden.
Viele Kinder und Jugendliche haben wegen Schul- und Kita-Schließungen in der Corona-Zeit unter Vereinzelung gelitten. Merken Sie die sozialen Folgen in Ihrer Bildungsarbeit?
Latzel: Das merken wir in verschiedenen Bereichen sehr deutlich. Junge Leute sprechen zum Beispiel in der Chat- oder Telefonseelsorge über ihre Probleme. Auch die Schulseelsorge bekommt hautnah mit, welche Belastungen Kinder und Jugendliche, aber auch Lehrkräfte und Familien erleben. Junge Menschen sind besonders stark auf Begegnungen und sozialen Austausch angewiesen. Teilweise müssen jetzt Umgangsformen und das Agieren in der Gruppe erst wieder neu eingeübt werden. Manche Kinder und Jugendlichen ziehen sich zurück, vereinsamen und haben Angst, nach draußen zu gehen. Hinzu kommen aktuelle Krisen wie der Ukraine-Krieg und die Teuerungen. Wir erleben auch, dass Eltern ihre Kinder aus finanziellen Gründen von kostenpflichtigen Angeboten in Kita oder Schule abmelden. Dabei dürfen wir gerade an diesen Stellen überhaupt nicht sparen. Wenn wir wirklich etwas für den Erhalt unserer Gesellschaft tun wollen, ist Bildung eines der Schlüsselelemente.
"Wenn wir wirklich etwas für den Erhalt unserer Gesellschaft tun wollen, ist Bildung eines der Schlüsselelemente."
In Nordrhein-Westfalen setzen Sie auf einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, bei dem evangelische und katholische Schüler gemeinsam unterrichtet werden, auch interreligiöse Module sollen dazukommen. Ist das die Zukunft des Religionsunterrichts?
Latzel: Unabhängig von der Form ist uns wichtig, dass es weiterhin Religionsunterricht an den staatlichen Schulen gibt und nicht nur eine Religionskunde, in der man über Religion redet. Es geht darum, eine authentische Innenperspektive zu entwickeln und den eigenen Glauben zu entfalten. Das schafft Begegnungsmöglichkeiten: Auf dieser Basis kann ich die Sicht einer anderen Konfession kennenlernen und auch mit anderen Religionen ins Gespräch kommen. Unsere Gesellschaft braucht gerade den Dialog der Religionen. Der konfessionell-kooperative Unterricht ist ein Instrument, all dies zu ermöglichen. Es ist Sache der einzelnen Schulen, darüber zu entscheiden, welche Form sie wählt.
Die rheinische Kirche befindet sich wegen sinkender Mitgliederzahlen in einem Reformprozess. Ein wissenschaftlicher Zwischenbericht zum Projekt "Erprobungsräume" beklagt eine zu starke Orientierung an bestehenden Strukturen und Gemeindeformen, das sei risikoscheu und innovationshemmend. Wie wollen Sie hier vorankommen?
Latzel: Ich sehe die Entwicklung positiv: Es tut sich was in unserer Kirche, es gibt viel Veränderungsbereitschaft und Innovation. Die Studie stellt zurecht die Frage, wie Neues umgesetzt, integriert und verstetigt werden kann, wie es in den Regelbetrieb kommt und wo darüber verhandelt wird - diese Aufgaben müssen wir angehen. Es gibt aber auch außerhalb der Erprobungsräume sehr viele Aufbrüche, die nicht Thema der Studie waren. Man muss auch kein Prophet sein, um zu wissen, dass es künftig noch stärkere Veränderungsprozesse geben wird. Über manches wird bereits konkret nachgedacht, zum Beispiel eine einladende Kasualpraxis, neue Gottesdienstformen, digitale Angebote, die Stärkung von Mitglieder-Kontakten, die Anstellung von Pfarrerinnen und Pfarrern auf Kirchenkreisebene oder - in einem Kirchenkreis - die verwaltungsmäßige Zusammenlegung aller Gemeinden. Wichtig ist, dass Strukturen immer den Inhalten als dem eigentlichen Ziel dienen. Und das ist, Menschen mit dem Evangelium von Jesus Christus zu erreichen.
"Es tut sich was in unserer Kirche, es gibt viel Veränderungsbereitschaft und Innovation."
Ist die Diskussion über Strukturen nicht auch ein Kampf um Ressourcen?
Latzel: Natürlich kann jeder Euro nur einmal ausgegeben werden. Aber in der Kirche kämpfen wir nicht, sondern überlegen gemeinsam, wie wir es am besten machen wollen. Die zentralen Fragen sind dabei: Wie wollen wir zukünftig Kirche sein? Wie können wir Kirche Jesu Christi für die Menschen sein und Hoffnung vermitteln? Wie stärken wir den Kontakt zu den 90 Prozent der Mitglieder, die nicht im Kernbereich auftauchen, speziell zu jungen Menschen - und auch nach außen? Auf dieser Basis geht es dann auch um Finanzen, Gebäude und den Einsatz von Mitarbeitenden.