Seit geraumer Zeit stimmt diese Regel jedoch nicht mehr: Menschen mit Vermögen können angesichts explodierter Energiepreise auf Rücklagen zurückgreifen, aber wer schon zuvor nur knapp über die Runden kam, hat bereits mit einer höheren Nebenkostenabrechnung Probleme; von den gestiegenen Lebensmittelpreisen ganz zu schweigen. Selbst die Mittelschicht kann sich ihrer Existenz nicht mehr sicher sein; und davon erzählt die Dokumentation "Arm trotz Arbeit", die mit einer Länge von knapp neunzig Minuten allerdings viel zu lang ausgefallen ist.
Der dramaturgische Ansatz, den Katharina Wolff und Valentin Thurn gewählt haben, ist durchaus interessant: Quer durch Europa haben sie mit Menschen gesprochen, denen die diversen Krisen der letzten Zeit langsam, aber sicher den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Clou des Films ist die Idee, die Betroffenen nach drei Jahren nochmals zu besuchen. Auf diese Weise sind die Schlaglichter nicht bloß Momentaufnahmen, weil sich Entwicklungen und Tendenzen nachvollziehen lassen.
Leider geben die Erkenntnisse wenig Anlass zur Zuversicht. Gerade bei den Älteren, die ihr Leben lang gearbeitet haben und trotzdem auf Hilfe vom Sozialamt angewiesen sind, ist der Trend eher negativ. Abgesehen vom Beispiel einer Spanierin, die gemeinsam mit anderen einen kooperativen Lieferservice gegründet hat, sind die meisten Aussichten alles andere als rosig.
Vermutlich stellen Wolff und Thurn die junge Katalanin deshalb erst am Ende vor, damit die Dokumentation wenigstens einen versöhnlichen Schluss hat. Ein weiteres Manko des Films ist seine Redundanz: Die Lebensläufe mögen unterschiedlich sein, aber die Analysen gleichen sich. Überall hatte die Liberalisierung des Arbeitsrechts zur Folge, dass immer mehr Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen landen; die entsprechenden Stichwörter sind Minijob, Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge. Die Digitalisierung sorgte in diesem Segment zudem für einen Turboeffekt, weil immer mehr Menschen als Scheinselbstständige ohne soziale Absicherung beschäftigt werden.
Dennoch hätte "Arm trotz Arbeit" theoretisch ein fesselnder Film werden können, weil das Regie-Duo die anonymen Arbeitsmarktstatistiken mit Leben füllt und die Gesichter hinter den Zahlen zeigt. Die Umsetzung mutet jedoch wie eine allzu lang geratene Radioreportage an, die notdürftig mit Bildern versehen worden ist: Die Informationsvermittlung findet ausschließlich akustisch statt; es wird tatsächlich knapp neunzig Minuten lang ununterbrochen geredet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Schema ist dabei stets das gleiche: Der Kommentar beschreibt die jeweiligen beruflichen und sozialen Rahmenbedingungen, die Männer und Frauen schildern ihren Lebensalltag, die Expert:innen (darunter seltsamerweise auch ein Geograf) betten das Gehörte in einen größeren Zusammenhang. Die optische Ebene vermittelt dagegen keinerlei Erkenntnisgewinn. Oftmals sind die Aufnahmen völlig beliebig. Dass der Film eine sechzigjährige Französin Patricia auf einen Flohmarkt begleitet, hat im Rahmen des Themas keinerlei Aussagekraft, schließlich machen auch Menschen mit gesichertem Einkommen gern ein Schnäppchen.
Lobenswert ist immerhin der Ansatz, die Entwicklungen aus der Perspektive der Betroffenen zu beschreiben; auf diese Weise sind sie nicht Objekt, sondern Subjekt, selbst wenn das natürlich nichts daran ändert, dass gerade die Älteren ihrer jeweiligen Situation mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sind.
Wirklich sehenswert ist die Dokumentation jedoch vor allem wegen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers Guy Standing, dessen Ausführungen als eine Art Appell ans mutmaßlich gutsituierte Arte-Publikum verstanden werden können: Unsicherheit, zitiert er Konfuzius, sei schlimmer als Armut; eine Feststellung, die auch in den Aussagen der Betroffenen immer wieder zu hören ist. Europa, so lässt sich Standings Analyse auf den Punkt bringen, sitzt auf einem Pulverfass. Die sogenannte Gelbwestenbewegung in Frankreich war demnach nur ein Vorgeschmack: Wenn sich nicht bald etwas ändert, droht großen Teilen der Mittelschicht ein Abrutschen in die Armut. Gebe es keine fundamentalen Änderungen, prognostiziert der Ökonom, werde Europa in Richtung Neofaschismus driften.