Mit einem seiner bekanntesten Hits, "Jeanny" (1985), hat Popstar Falco nicht nur in Österreich für einen Skandal gesorgt; auch deutsche Radiosender haben das Lied boykottiert, weil es angeblich eine Vergewaltigung verharmlost oder gar verherrlicht. Der eigentliche Text ist im Grunde harmlos, aber in einem "Newsflash" ist von mehreren vermissten Personen die Rede; das Video zum Song legt erst recht die Deutung nahe, es könne sich bei dem Protagonisten um einen psychopathischen Mörder à la Norman Bates handeln. Tatsächlich hatte sich das holländische Komponistenduo Bolland & Bolland durch eine Mordserie zu dem Lied inspirieren lassen. Die Idee, den Song als Vorlage für einen Thriller zu nutzen, ist ebenso ungewöhnlich wie reizvoll, zumal Komponist Matthias Weber die Melodie des Hits immer wieder geschickt und sehr gezielt in die Filmmusik integriert hat.
Der Film beginnt allerdings wie eine Liebesgeschichte: Jeanny (Theresa Riess in ihrer ersten großen Rolle) ist 19 und steckt mitten in der Matura. Als sie nach Feierabend den Frisiersalon ihrer Mutter ausfegt, klopft ein später Kunde, der beim Rasieren in die Haare geraten ist. Johannes Bachmann (Manuel Rubey) ist Steuerberater, und das trifft sich gut, denn Wahrscheinlichkeitsrechnung wird ein wesentlicher Bestandteil der anstehenden Matheklausur. Es gelingt ihm, Jeanny die komplizierte Materie auf ebenso amüsante wie einleuchtende Weise zu erklären. Sie ist ziemlich angetan von dem zwar doppelt so alten, aber äußerst charmanten Mann, und so könnte die Liebe ihren unbefangenen Lauf nehmen, wenn es da nicht diese Vermisstenserie gäbe: In den letzten Jahren sind in der Kleinstadt in der Nähe von Wien vier junge Frauen verschwunden.
Schon allein die Besetzung der männlichen Hauptfigur mit Manuel Rubey war eine famose Idee. Die Rolle, die den Wiener 2008 schlagartig bekannt machte, war ausgerechnet die Titelfigur des biografischen Dramas "Falco – Verdammt, wir leben noch!". Viel entscheidender ist jedoch, dass sich Rubey mit Anfang vierzig immer noch eine gewisse Jungenhaftigkeit bewahrt hat, die ihn fast automatisch sympathisch erscheinen lässt; das hat sich bereits auf sehr clevere Weise ein "Tatort" aus Stuttgart ("Der Mann, der lügt", 2018) zunutze gemacht. In "Jeanny" ist Bachmann zudem die tragische Figur der Geschichte: Seine Eltern sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er ein Kind war; das verbindet ihn mit dem Mädchen, dessen Vater ebenfalls viel zu früh verstorben ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die passende Rückblende offenbart die ganze Tragweite dieses traumatischen Erlebnisses; und sie erklärt, warum das Wiener Kinderlied vom "Lieben Augustin" ("Alles ist hin") eine besondere Bewandnis für ihn hat.
Dieses Geheimnis lüftet der Film etwa zur Hälfte. Die Spannung sollte sich nun eigentlich zuspitzen, zumal Jeanny entdeckt, dass ihre Begegnung mit Johannes keineswegs ein Zufall war, aber richtig packend wird die Geschichte auch dank einer wirkungsvollen Parallelmontage erst wieder gegen Ende. Das hat nicht nur mit der zunehmend zerfasernden Handlung zu tun, sondern auch mit den Nebenfiguren. Die schillerndste Rolle spielt Martin Feifel als Künstler, der zwanzig Jahre im Gefängnis war. Ihn und Johannes verbindet ein verhängnisvolles Ereignis; kein Wunder, dass er wie vom Donner gerührt ist, als Bachmann Jeanny zur Vernissage mitbringt.
Die weiteren Mitwirkenden haben jedoch entweder weniger Spielraum oder nicht die nötige Ausstrahlung, um mehr aus ihren Rollen zu machen, weshalb Martin Brambach als Freund von Jeannys Mutter (Eva Herzig) völlig überbesetzt wirkt. Einige Szenen sind auch schauspielerisch nicht rundum überzeugend, weil Trauer viel schwieriger darzustellen ist als Glück. Interessant ist allerdings die Idee, Bachmann beinahe zum Märtyrer zu machen: Kristina Eichhorn (Patricia Aulitzky), die Mutter eines der vermissten Mädchen, hat eine Bürgerwehr organisiert, die nachts in den Straßen patrouilliert. Für die "Schutzengel" gibt es keinen Zweifel, dass der Steuerberater der gesuchte Mädchenmörder ist; in einer unangenehm intensiven Szene fällt der wütende Mob über ihn her.
Regisseur Andreas Kopriva hat unter anderem die raffiniert inszenierte ORF-Serie "Janus" (2012/2013) gedreht; eine seiner letzten Arbeiten war ein sehenswerter "Tatort" aus Wien ("Pumpen", 2020). Das Drehbuch stammt von Andreas Karlström sowie dem erfahrenen Autoren Thorsten Wettcke, der unter anderem mehrfach für das Drama "Das Wunder von Kärnten" (2012) ausgezeichnet worden ist. Titelfigur Jeanny verdankt ihren Namen übrigens nicht etwa dem Falco-Song, sondern dem Godard-Klassiker "Außer Atem" (1960): Ihre Eltern bewunderten die Filme der Nouvelle Vague, als Namenspatin fungierte Hauptdarstellerin Jean Seberg. Das ist zwar ein bisschen weit hergeholt, aber immerhin eine sympathische Hommage. Die Amerikanerin ist einst durch ihre Rolle an der Seite Jean-Paul Belmondos zum europäischen Star geworden, und auch von Theresa Riess wird es mit Sicherheit noch Einiges zu sehen geben.