epd: Die Zuwanderung von Flüchtlingen und Migranten nach Deutschland hat wieder stark zugenommen. Wie sollte damit umgegangen werden?
Thorsten Latzel: Es gibt in diesem Jahr die Besonderheit, dass mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine hier Zuflucht gesucht haben. Zugleich gibt es Flüchtlingsbewegungen aus anderen Teilen der Welt. Zum Beispiel aus Afghanistan, wo die Taliban wieder herrschen, Pakistan, wo ein Drittel des Landes überflutet ist, oder Syrien, wo der Bürgerkrieg weitergeht, auch wenn wir davon nicht viel mitbekommen. Wenn wir als EU unsere eigenen Werte ernst nehmen, müssen wir Flüchtlingen ermöglichen, ihr Menschenrecht wahrzunehmen, und zivile, menschenfreundliche Formen der Aufnahme haben. Wichtig ist auch eine konsequente Integrationspolitik, die Menschen einbindet und Perspektiven schafft. Eine Ghettoisierung junger Männer aus anderen Kulturkreisen ohne Familienanbindung und Perspektiven schafft dagegen Probleme.
Die NRW-Landesregierung hat um kirchliche Hilfen bei der Unterbringung von Flüchtlingen gebeten. Wie gehen Sie damit um?
Latzel: Wir wissen, dass Kommunen und Landkreise unter dieser Belastung leiden. Als evangelische Kirche und Diakonie bringen wir uns auch dank der Erfahrung von 2015 aktiv ein, indem wir Gebäude zur Verfügung stellen und Menschen begleiten und beraten. Vor allem wissen die Gemeinden und Kirchenkreise um dieses Problem - es braucht ja Lösungen in der Kommune vor Ort. Das ist eine wirkliche Herausforderung. Es geht immer auch darum, die Menschen vom ersten Tag an einzubeziehen und Angebote zu machen, etwa Sprachkurse.
Der neue Sonderbevollmächtigte für Migration der Bundesregierung, Joachim Stamp, will Flucht und Arbeitsmigration stärker trennen und auch Abschiebungen beschleunigen: Mehr reguläre und weniger irreguläre Migration sei das Ziel. Sehen Sie das genauso?
Latzel: Es ist in der Tat sinnvoll, zwischen Arbeitsmigration und der Zuwanderung von Flüchtlingen zu unterscheiden. Allerdings müssen wir den Menschen beider Gruppen, wenn sie hier sind, eine schnelle Integration und Zukunftsmöglichkeiten bieten. Mit den Menschen aus der Ukraine läuft das sehr viel schneller und unbürokratisch, da machen wir vieles richtig. Mit den anderen Gruppen sollte es genauso sein, damit es keine Zweiklassengesellschaft gibt. Vor allem für die Flüchtlinge gilt: Niemand verlässt gerne seine Heimat. Wir werden eine noch viel größere Migrationsbewegung erleben, wenn wegen des Klimawandels ganze Landstriche nicht mehr bewohnbar sein werden. Deshalb ist das Beste, was wir zur Begrenzung von Migration tun können, den Menschen an ihrem Herkunftsort lebenswürdige Perspektiven zu schaffen.
"Das Beste, was wir zur Begrenzung von Migration tun können, ist, den Menschen an ihrem Herkunftsort lebenswürdige Perspektiven zu schaffen."
Ist das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht für langjährig in Deutschland geduldete Ausländer ein richtiger Weg?
Latzel: Welche Gesetzesregelungen im Einzelnen getroffen werden, ist Sache der Politik. Aber wenn Menschen seit Jahren hier leben und gut integriert sind, ist es sinnvoll, ihnen eine Zukunftsperspektive zu geben. Wir sind seit vielen Jahren ein Einwanderungsland und sollten klug damit umgehen. Fremden zu helfen, ist Teil unseres christlichen Glaubens und findet seinen Niederschlag bis in die biblischen 10 Gebote.
CSU-Vize Manfred Weber hat kürzlich gefordert, notfalls mit EU-Unterstützung Zäune zu bauen, um illegale Migration an den EU-Grenzen im Südosten Europas zu stoppen. Erscheint Ihnen das sinnvoll?
Latzel: Wenn Menschen vor einer Notsituation fliehen, können Zäune sie nicht wirklich abhalten. Ein solches Vorgehen würde auch am Geschäftsmodell von Schleppern nichts ändern, im Gegenteil. Es muss eher darum gehen, sichere und legale Wege zu schaffen, auf denen Menschen nach Europa kommen und ihr Menschenrecht auf Asyl einfordern können. Es darf nicht sein, dass das Mittelmeer das gefährlichste Gewässer der Welt ist, weil dort so viele Menschen auf der Flucht umkommen. Wir sollten zudem die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern verbessern.
"Es muss darum gehen, sichere und legale Wege zu schaffen, auf denen Menschen nach Europa kommen und ihr Menschenrecht auf Asyl einfordern können."
Ist das Kirchenasyl noch zeitgemäß?
Latzel: Das Kirchenasyl ermöglicht eine nochmalige Überprüfung abgelehnter Asylbegehren in einzelnen Härtefällen und existiert im Rahmen und auf der Basis unserer Rechtsprechung. Der Rechtsstaat wird dadurch faktisch gestärkt. Die Verfahren sind transparent, sie werden immer bei den Behörden angemeldet und die Polizei hat jederzeit Zugriffsrechte. Beim Kirchenasyl geht es ähnlich wie bei der Beobachtung von Abschiebungen darum, dass Menschenrechtsstandards eingehalten werden - das ist für uns eine Konsequenz des christlichen Glaubens. Die Bibel ist eine Sammlung von Migrationsgeschichten, vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten bis zu Jesus, der selbst Flüchtling war. Es geht darum, im Anderen den Mitmenschen zu sehen und menschlich mit ihm umzugehen.
Wie ist zu erklären, dass die Zahl von Menschen in Kirchenasyl sinkt, die Zahl der Anfragen aber steigt?
Latzel: Jede Anfrage wird von den Gemeinden vor Ort genau und gewissenhaft geprüft. Deshalb wird nicht jeder Bitte um Kirchenasyl entsprochen. Manchmal sind die Gegebenheiten vor Ort auch nicht so, dass Menschen untergebracht und versorgt werden können. Bei uns gewährt wie gesagt niemand leichtfertig ein Kirchenasyl.