Der schlimmste Moment: "Wenn die anderen Kinder ihre Taschen packen und ganz aufgeregt sind, weil sie gleich nach Hause abgeholt werden". In dieser Situation hat Sozialpädagogin Madeline Herbst, Leiterin einer der heilpädagogischen Wohngruppen im Nürnberger Martin-Luther-Haus, einen Kloß im Hals. Die Kleinen freuen sich auf die Weihnachtsferien, auf Geschenke, auf ihre Familien, "und sie nehmen da keine Rücksicht auf die anderen, die nicht heimkommen".
An den Weihnachtsfeiertagen bleiben immer einige Kinder zurück in den Wohngruppen der stationären Jugendhilfeeinrichtung, erzählt Einrichtungsleiter, Christian Debebe. Langfristig plane man für diese Tage in dem Haus mit dem maximal möglichen Personal. "Denn wir müssen uns auch darauf einstellen, in letzter Sekunde etwas abzufangen."
Immer wieder komme es vor, dass Kinder erst kurz vor dem Fest erfahren, dass sie zum Feiern nicht zu einem Elternteil reisen können. Vielleicht weil sich die Mutter in einer Krise befindet, vielleicht weil sich die Eltern schlicht überfordert fühlen, erklärt Debebe.
"Unsere Kids sind einiges gewöhnt und sind im Wegstecken trainiert", sagt Erzieherin Regina Probst. "Aber seit der Pandemie ist das Urvertrauen angeknackst." Sie erinnert sich noch gut, wie die ganze Wohngruppe zitterte, dass bloß keiner corona-positiv wird und alle in die Quarantäne müssten. "Für die Kinder hätte sich das wie Hausarrest angefühlt."
Erzieherinnen und Kinder entscheiden gemeinsam
Rund 200 Kinder aus ganz Süddeutschland leben im Martin-Luther-Haus, das bereits seit über 100 Jahren besteht. Im Durchschnitt sind sie zwei oder drei Jahre in der Einrichtung, aber sie hätten auch schon Bewohner gehabt, die 15 Jahre da waren, erzählt Debebe. Wenn er an die Corona-Jahre zurückdenkt, wird er ärgerlich. Denn Kinder- und Jugendeinrichtungen seien übersehen worden: bei den Masken, beim Impfen, beim Corona-Bonus. Und dazu fürchtet er, dass in dieser Zeit auch die Probleme vieler Kinder übersehen wurden, die in den Familien leben. Er denkt an den Jungen, der vergangenen Monat neu ins Martin-Luther-Heim kam und der täglich 15 Stunden Medien konsumierte.
Regina Probst, die mit Madeline Herbst in der Wohngruppe für Kinder im Grundschulalter arbeitet, hat am ersten Weihnachtsfeiertag Dienst. Voraussichtlich werden zwei Kinder bei ihr sein. Eines hat noch nie mit der eigenen Familie gefeiert, das andere war noch zu klein, um sich zu erinnern.
"Wir besprechen nicht im Team, was die Kollegen an den Feiertagen mit den Kindern machen", erklärt Herbst. Die Erzieherinnen und Erzieher, die Dienst haben, entscheiden selbst und mit den Kindern, wie sie die Bescherung gestalten. Rituale gibt es nicht.
Viel Zeit fürs Miteinander
"Aber ich bin immer zum Krippenspiel in die Kirche gegangen", erzählt die Wohngruppenleiterin von den Jahren, in denen sie im Dienstplan stand. Am ersten Feiertag war sie einmal mit ein paar Kindern beim Schlittschuhlaufen. "Wichtig ist, die Kinder erleben uns authentisch." Regina Probst will mit ihren Schützlingen auch in eine Kirche zum Krippenspiel gehen und mit ihnen zusammen kochen.
Für die Zurückgebliebenen sind die Tage in der Wohngruppe nicht traurig, sind die Erzieherinnen überzeugt. Die "Quality-Time" sei auch ein Trost. "Wir haben wahnsinnig viel Zeit und sind nur für die Kinder da", sagt Herbst.
"Manche von den älteren Jugendlichen wollen auch gar nicht nach Hause", berichtet Debebe. Es seien oft solche Kinder, die bereits mehrmals erlebt haben, dass Weihnachten der Tag ist, an dem sich der Vater betrinkt oder sich die Familie anschreit und bekriegt. Doch für die kleinen Kinder ist das Weihnachtsfest sehr emotional. In allen Medien oder in Kinderbüchern sehen sie das Klischee von der Familie aus Vater, Mutter und den Kindern um den Christbaum versammelt. "Es gibt kaum Materialien, die ein anderes Bild vermitteln", bedauert Probst, die beim Vorlesen auch mal eine kitschige Weihnachtsgeschichte abwandelt und sie nicht "zu Hause", sondern in der Wohngruppe spielen lässt.