In den frühen Neunzigerjahren sind viele Familien vor dem Bürgerkrieg im damaligen Jugoslawien nach Deutschland geflohen. Trotzdem war das Schicksal dieser Immigranten nur selten Thema im deutschen Fernsehfilm. In dem Drama "Der Schneegänger" geht es zwar vordergründig um die Ermordung eines Jungen, doch ohne den Hintergrund des Krieges wäre die Geschichte bloß ein Krimi wie viele andere. Die Schriftstellerin Elisabeth Herrmann hat ihre eigene Romanvorlage gemeinsam mit Regisseur Josef Rusnak adaptiert. Der Film beginnt mit einem Prolog, der sich als Rückblende entpuppt: Der elfjährige Dario ist mit seinem Vater im winterlichen Wald unterwegs. Darko Tudor (Stipe Erceg) ist Wildhüter in Brandenburg und will einen kranken Wolf erschießen. Trotz der Erklärung des Vaters – "Das Schwache macht dem Starken Platz" – verhindert der Junge den Abschuss.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In der Gegenwart wird ganz in der Nähe Darios Leiche gefunden. Rippenbrüche, fehlende Zähne sowie Brandnarben dokumentieren, dass das vor zwei Jahren verschwundene Kind über längere Zeit grausam misshandelt worden ist, und eine Polizistin macht sich große Vorwürfe: Damals hat ein Junge auf Kroatisch den Polizeinotruf gewählt. Weil Wachtmeisterin Sanela (Nadja Bobyleva) die Sprache spricht, hat sie einen Kollegen in das mondäne Berliner Viertel begleitet, doch in der Villa von Familie Reinartz schien alles in Ordnung. Hätte sie damals nicht auf ihren Vorgesetzten, sondern auf ihre Intuition gehört, könnte Dario vielleicht noch leben. Daher bittet sie Kommissar Gehring (Max Riemelt), ihn zu den Eltern des Jungen begleiten zu dürfen. Verblüfft stellen die beiden fest, dass die frühere Putzfrau Lida Tudor (Edita Malovcic), wie Sanela gebürtige Kroatin, mittlerweile die Hausherrin ist: Kurz nach dem Verschwinden ihres Sohnes hat sie ihren Arbeitgeber (Bernhard Schir) geheiratet. Angeblich ist der Junge damals entführt und dann wohl ermordet worden, als den Kidnappern klar wurde, dass sie ihn mit dem gleichaltrigen Sohn von Reinartz verwechselt haben. Während sich Gehrings Ermittlungen auf Darios Vater konzentrieren, wird Sanela vom älteren Sohn der Familie dabei erwischt, wie sie ohne Erlaubnis in der Villa herumschnüffelt. Kurzerhand gibt sie sich als neues Hausmädchen aus, stößt schließlich auf ein düsteres Geheimnis und gerät prompt selbst in Lebensgefahr.
Weil Rusnak die Krimiebene zunächst zwar konzentriert, aber sachlich inszeniert, ist der biografische Hintergrund der Heldin fast zwangsläufig ungleich spannender, zumal sich eine alptraumhafte Erinnerung an die Kindheit in Kroatien wie ein roter Faden durch den Film zieht (eine Wiederholung aus dem Jahr 2019); das Trauma, das Sanela mit fünf Jahren erlebt hat, prägt sie bis heute. Dazu passt auch ihre Einführung: Als Gehring sie zu Beginn im Boxclub ihres Vaters (Ralph Herforth) abholt, wird er Zeuge, wie sie sich im Ring mit einer Gegnerin einen Kampf wie auf Leben und Tod liefert. Später wird der Vater sagen, sie habe zu viel Wut in sich. Sanela wollte einst vor dem Krieg fliehen, hat ihn aber mitgebracht; genauso wie das Ehepaar Tudor. Darkos Wut entlädt sich, als er beinahe seine Exfrau erwürgt; Sanela kann Lida gerade noch retten, und weil die emotionale Ausnahmesituation die alten Erinnerungen heraufbeschwört, fragt sie sich, ob der Wildhüter womöglich auch der mörderische Protagonist ihrer Alpträume ist.
Kein Wunder, dass Nadja Bobyleva deutlich mehr Präsenz hat als Max Riemelt: Sanela ist als Rolle eindeutig interessanter als die Figur des Kollegen, der zudem meist nur Gemeinplätze von sich geben darf. Damit Gehring zumindest ein bisschen Tiefe bekommt, streuen Herrmann und Rusnak beiläufig ein paar biografische Details ein (ein verwaistes Kinderzimmer, ein Schreiben vom Scheidungsanwalt, ein Tinder-Date). Trotzdem ist der Kommissar Projektionsfläche, weil er ähnlich wie die Zuschauer zunächst nicht schlau aus Sanela wird, die wenig bis gar nichts von sich preisgibt. Allerdings macht auch der Film ein Geheimnis aus der Figur. Die Rückblende in ihre Kindheit offenbart zwar von Mal zu Mal weitere Details, lässt aber offen, wie das Mädchen damals davongekommen ist; eine Erklärung für die Narbe auf dem Rücken gibt es ebenfalls nicht.
Sehr sorgfältig ist dagegen die Bildgestaltung (Cristian Pirjol). Großes Handwerk sind zum Beispiel die fließenden Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit, als sich die Polizistin Zutritt zum Haus verschafft und Blicke oder Kamerabewegungen mehrfach in die Rückblende überleiten. "Der Schneegänger" ist Herrmanns zweiter Roman über Sanela Beara. Den ersten hat Niki Stein (Buch und Regie) unter dem Titel "Das Dorf der Mörder" (2015) verfilmt, ebenfalls fürs ZDF. Alina Levshin war als Heldin damals ähnlich intensiv und überzeugend wie jetzt Bobyleva. Der Unterschied zwischen den jeweiligen Spielpartnern könnte dagegen kaum größer sein: Bei Stein hat Jürgen Tarrach den älteren Kommissar verkörpert. Für die Qualität der neuen Verfilmung nicht wesentlich, aber interessant: Stipe Erceg ist tatsächlich gebürtiger Kroate, die Eltern der in Wien zur Welt gekommenen Edita Malovcic stammen aus Bosnien. Bobyleva (1983 in Moskau geboren) ist im Grunde zu alt für die Rolle, geht aber glaubwürdig als junge Beamtin durch.