Die Corona-Schutzmaßnahmen gehen Interessenvertretern für Menschen mit Behinderung manchmal zu weit. Der Behindertenbeauftragte der Stadt Würzburg, Julian Wendel, kritisiert, dass Menschen mit Handicap weiterhin als "vulnerabel" eingestuft werden. Die Folge: Sie werden geschützt - ob sie es wollen oder nicht. "Eine Berliner Freundin von mir befindet sich ganz in der Nähe auf Reha, doch ich kann sie nicht besuchen, weil Besucher auch mit Maske und Test nicht hereingelassen werden", schildert der 38-Jährige, der an spinaler Muskelatrophie leidet. Für ihn ist das eine "überzogene Vorsicht". Kontakt müsse endlich wieder normal werden, fordert er. "Für Menschen mit einer Behinderung ist es sowieso schon sehr schwer, sozial teilzuhaben." Was Kontaktbeschränkungen anrichten können, sehe er an einem Mitstreiter aus dem kommunalen Behindertenbeirat: "Er wurde in der Pandemie depressiv und lag lange in der Klinik."
Julian Wendel kann aufgrund seiner schweren Behinderung nur mit Hilfe seine Wohnung verlassen. Bisher konnte er sich für Ausflüge oder Besuche bei Freunden auf Assistenzkräfte verlassen. Durch die Corona-Krise kam es jedoch zu einem Fachkräftemangel, der sich auch auf die persönliche Assistenz auswirkt: "Es wird immer schwerer, Assistenzkräfte zu finden", sagt Wendel. Er habe deshalb schon private Treffen absagen müssen.
"Blinde Menschen haben unter den Kontaktbeschränkungen extrem gelitten", sagt Markus Rummel, ein blinder Rentner aus Würzburg. Denn Blinde seien auf Körperkontakt angewiesen. Weil sie keine Mimik erfassen können, sei der Händedruck so wichtig. "Ich habe immer wieder mal ganz automatisch meine Hand hingestreckt, aber es kam in der Zeit des Kontaktverbots nur ein einziges Mal vor, dass mir jemand die Hand gab", sagte der ehemalige Musiktherapeut der Würzburger Blindeninstitutsstiftung dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Ottmar Miles-Paul, seh- und hörbehinderter Sozialarbeiter aus Kassel, hätte sich in der Corona-Krise mehr Sensibilität gewünscht. So wurden in der Pandemie erwachsene Kinder von ihren Eltern aus den Behindertenwohnheimen geholt und mussten zu ihnen ziehen. Das habe einige der 30, 40 oder 50 Jahre alten Söhne und Töchter "aus der Bahn geworfen", sagte der Behindertenrechtsaktivist dem epd: "Sie wollen, wie andere erwachsene Kinder, in diesem Alter nicht mehr bei ihren Eltern leben." Der mit dem Bundesteilhabegesetz initiierte Reformprozess, der Menschen mit Behinderung wesentliche Verbesserungen bringen soll, "wurde durch Corona völlig ausgebremst", sagt Miles-Paul. Der Prozess der Inklusion sei um zwei Jahre zurückgeworfen worden.
Mesut Can ist Mitglied des Behindertenbeirats der Stadt Gütersloh. Der 40-jährige schwerbehinderte Rollstuhlfahrer beklagt, dass "die Sitzungen des Behindertenbeirats komplett ausfielen". Dadurch hätten Menschen mit Behinderung in den vergangenen zwei Jahren praktisch keine Möglichkeit gehabt, die Stadtverwaltung effektiv zu beraten. Wie Julian Wendel kritisiert auch er überzogene Vorsichtsmaßnahmen. So sei die Schließung der Förderschulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung höchst problematisch gewesen: "Schüler, die normalerweise einen Schulabschluss gerade geschafft hätten, wurden durch digitalen Unterricht, bei dem sie nicht mitkamen, um den Abschluss gebracht."
Laut Anja Roy Chowdhury, Teilhabeberaterin aus Gütersloh, hatte die Entscheidung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), nur noch telefonisch zu begutachten, fatale Folgen: "Einige unserer Klienten haben dadurch keinen Pflegegrad bekommen. So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt die Beraterin. Überhaupt habe ihre Einrichtung noch niemals so häufig über Widersprüche gegen MDK-Entscheidungen beraten müssen wie in den vergangenen Monaten.