Hierzulande sind "Oliver Twist" und "Eine Weihnachtsgeschichte" nicht zuletzt wegen der berühmten Verfilmungen vermutlich bekannter, aber die schönste Schöpfung von Charles Dickens ist "David Copperfield" (1850). Er selbst hat das Buch als seinen Lieblingsroman bezeichnet. Es ist ebenfalls diverse Male adaptiert worden, doch keine der bisherigen Versionen kann es mit "David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück" aufnehmen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Armando Iannucci hat die Vorlage derart fantasievoll umgesetzt, dass Dickens garantiert seine große Freude daran gehabt hätte. Der britische Regisseur und sein Koautor Simon Blackwell haben sich einige Freiheiten genommen, halten sich aber im Großen und Ganzen an die stark autobiografische geprägte Vorlage.
Wie alle Werke Dickens’ ist die Geschichte voller Dramatik: Der kleine David verbringt eine vergleichsweise idyllische Kindheit, bis seine Mutter einen fatalen Fehler begeht und den despotischen Murdstone heiratet. Weil sich David die brutale Tyrannei des Mannes nicht gefallen lässt, wird er nach London verbannt und muss sein Dasein fortan in der Flaschenfabrik des Stiefvaters fristen. Nach dem Tod der Mutter flieht er zu seiner etwas wunderlichen Tante Betsey (Tilda Swinton) und ihrem sonderbaren, aber liebenswerten Cousin Mr. Dick (Hugh Laurie).
Endlich bekommt der hochbegabte David, mittlerweile ein stattlicher junger Mann (Dev Patel), eine seinen Fähigkeiten gebührende Ausbildung. Zwei seiner Mitschüler sorgen allerdings dafür, dass sein Leben auch weiterhin eine Achterbahnfahrt bleibt: Bis er schließlich als Autor zu Ruhm und Reichtum findet, muss er noch einige Tiefen überstehen.
Aller Düsternis und Tragik zum Trotz ist "David Copperfield" ein aufwendiges Spektakel, das durch viele originelle Einfälle beeindruckt. Das gilt schon für den Auftakt, als David buchstäblich seine Geschichte betritt, um der eigenen Geburt beizuwohnen. Grandios ist auch die Idee, die wichtigsten Rollen mit Darstellern unterschiedlichster Hautfarben zu besetzen; das entspricht zwar weder der Vorlage noch den historischen Tatsachen, ist aber eine künstlerische Freiheit, die dem Film außerordentlich gut tut.
Die größte Stärke des Drehbuchs sind jedoch die Dialoge. Für einen Film über das viktorianische England mit bedrückenden Szenen über Kinderarbeit und kaum vorstellbare Armut ist das Drama erstaunlich heiter, von Davids Romanzen ganz zu schweigen. Gerade die Bosheiten der schurkischen Figuren sind derart subtil verpackt, dass sie ihre giftige Wirkung erst mit kleiner Verzögerung entfalten.
Entsprechend bedeutsam war die Besetzung. Längst nicht alle wichtigen Mitwirkenden sind so bekannt wie die Stars Hugh Laurie ("Dr. House") oder Tilda Swinton, aber sämtliche Rollen sind vortrefflich besetzt. Dev Patel knüpft ohnehin nahtlos an seine großartigen Leistungen in "Slumdog Millionaire" und "Lion" an. Gruselig gut ist zum Beispiel Ben Whishaw als kriecherisch-finsterer Uriah Heep. Gleiches gilt für die Darsteller der typischen satirischen Dickens-Figuren, die die Geschichte bevölkern. Die Ausstattung ist märchenhaft schön, die Bildgestaltung formidabel, die Musik von angemessener Größe.
Am verblüffendsten ist "David Copperfield" jedoch immer dann, wenn die Illusion gebrochen wird: Mal werden Erzählungen mit an die Wand projizierten bewegten Bildern illustriert, mal überrascht der Regisseur mit einem Wechsel in den Stummfilmstil; gegen Ende bittet eine Figur gar darum, aus der Geschichte gestrichen zu werden.
Ianuccis Adaption ist beste Unterhaltung für die gesamte Familie, deshalb ist die Sendezeit für die TV-Premiere absurd. Das gilt auch für den Wiederholungstermin am 24. Dezember um 22.45 Uhr, ebenfalls im dritten Programm des Bayerischen Rundfunks. Immerhin steht der Film nach der nächtlichen Erstausstrahlung in der ARD-Mediathek.