In dem am Freitag veröffentlichten Brief an den Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes, Bernd Neuendorf, verweisen die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus und der Sportbeauftragte der EKD, Thorsten Latzel, auf die Menschenrechtslage im WM-Gastgeberland und fordern Neuendorf auf: "Helfen Sie, die unselige Instrumentalisierung des Fußballs zum Zwecke des sportswashing zu beenden."
In Katar würden fundamentale Menschenrechte verletzt, kritisieren Kurschus und Latzel und nennen als Beispiel die Vollstreckung der Todesstrafe an einem nepalesischen Gastarbeiter im Jahr 2020. Sie rufen den DFB-Präsidenten dazu auf, sich bei einer Reise zusammen mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Montag und Dienstag nächster Woche vor Ort ein Bild von der Lage der Arbeitsmigranten zu machen. Neuendorf solle die Frauen und Männer in deren Wohnquartieren besuchen, sofern sie vorher nicht außer Landes gebracht worden seien.
Kritik äußern die westfälische Präses Kurschus und der rheinische Präses Latzel auch an der Austragung der Weltmeisterschaft in den Wochen vor Weihnachten. "Eigens für diesen klimatisch ungeeigneten Austragungsort ist die WM in den späten Herbst verlegt worden, in die Zeit des christlichen Advent wie des jüdischen Chanukka", heißt es in dem Brief.
Der Auftakt sei für den Ewigkeitssonntag geplant. "An diesem Sonntag wird bei uns in stiller Trauer der Verstorbenen des vergangenen Jahres gedacht", schreiben die Theologin und der Theologe und führen aus, dass die WM den Charakter und die Stimmung des öffentlichen Raums präge.
"Dies beeinträchtigt die Menschen, die diese Wochen als Zeit der adventlichen Besinnung erleben möchten - und das sind nicht allein Gläubige", heißt es in dem Schreiben. Die Gleichzeitigkeit von Advent und WM werde zahlreiche Menschen in Konflikte bringen, in innere und familiäre.
"Elementare Menschenrechte dürfen keine bloße PR-Aktion sein", fordern Kurschus und Latzel. Vielmehr müssten der Schutz von Arbeiter:innen, Presse-, Religions- und Meinungsfreiheit sowie höchstmögliche ökologische Standards die selbstverständliche Voraussetzung für jedes internationale sportliche Großereignis bilden. Eine Vergabepraxis wie 2010, als die WM nach Katar vergeben wurde, dürfe sich nicht wiederholen.
In einem am Freitag online veröffentlichten Interview des evangelischen Monatsmagazins "chrismon" sagte Latzel mit Blick auf die WM-Vergabe 2010: "Die Reaktion in der Gesellschaft war damals zu schwach. Die Probleme hätten schon viel früher Thema sein müssen." Auch ein WM-Boykott durch den DFB wäre aus seiner Sicht eine Option gewesen.
Bahr: WM in Katar treibt TV-Zuschauer ins Dilemma
Aus Sicht der evangelischen Theologin Petra Bahr treibt die Fußball-WM in Katar Fernsehzuschauer in einen schwer lösbaren ethischen Konflikt. Angesichts der schwierigen Menschenrechtslage im Gastland sei es nur verständlich, wenn Menschen die WM boykottieren und dem Golfstaat die Unterstützung versagen wollen, schrieb die hannoversche Regionalbischöfin in einem Gastbeitrag für die "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" (Donnerstag). Eine größere Zahl von Individuen könne durchaus etwas ausrichten, "vor allem, wenn sich Widerstand aus der Reihe der Fußballer selbst regt". Bahr ist Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Für einen Fernsehboykott spricht nach Bahrs Auffassung auch die eingeschränkte Pressefreiheit in Katar. Das Land habe angekündigt, dass während der WM kein Journalist "hinter die Bühne treten" und unabhängig aus dem Land berichten darf. "Dass auch öffentlich-rechtliche Rundfunksender dabei umstandslos mitmachen, ist ein Verstoß gegen den eigenen Auftrag", kritisierte die Theologin. Beitragszahler hätten keine Möglichkeit, dem zu widersprechen. "Aber sie können sich dem vergifteten Angebot verweigern", argumentierte Bahr.
Jedoch dürfe man die positive verbindende Funktion des Fußballs nicht ignorieren, etwa "die Unterbrechung des Alltags, das egalitäre Moment". Womöglich könne Fußball sogar "die Lust an körperlicher Gewalt ins Zivilisatorische" wenden. "Fällt diese Entlastungsfunktion aus, bleibt im günstigsten Fall eine Leerstelle, mitten im kalten November", gab Bahr zu bedenken.
Am 20. November beginnt in Katar die Fußball-WM. Die Vergabe der Großveranstaltung an das Land war wegen der dortigen Menschenrechtsverletzungen immer wieder kritisiert worden.
Das von der Fifa oftmals vorgebrachte Argument, dass die WM die Menschenrechtslage im Gastland verbessere, lässt die Regionalbischöfin Bahr nicht gelten: "Schon die letzten Weltsportereignisse in Russland und China entkräften das Argument, dass diese Events kritische Perspektiven fördern und so in den Ländern selbst neben den Sportstätten auch Freiheitsräume wachsen lassen."