Seit Wochen gehen Menschen im Iran auf die Straße und riskieren ihr Leben, weil die Milizen immer wieder Demonstrationen blutig niederschlagen. Die unterschiedlichen Protestbewegungen im Iran fordern aktuell das Gleiche: ein Ende der islamischen Republik. Seit einigen Tagen solidarisieren sich auch die Arbeiter im Energiesektor mit den Frauen, wie die Tagesschau berichtet.
Bereits zu Beginn der Aufstände demonstrierten Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen und aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und die Proteste werden immer vielfältiger. Auch die Studierenden der Teheraner Frauenuniversität lehnen sich auf. Sie rufen dem erzkonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi in Sprechchören "Tod dem Unterdrücker" entgegen, wie es in der Süddeutschen heißt.
Obwohl die iranische Regierung das Internet eingeschränkt hat, finden sich Bilder und Videos aus dem Iran auf sozialen Netzwerken. Zunehmend protestieren laut Tagesschau auch Schüler:innen auf den Straßen und marschieren ohne vorgeschriebenes Kopftuch in der Öffentlichkeit.
Gleichzeitig gehen die iranischen Sicherheitskräfte immer brutaler gegen die Demonstrierenden vor. Es wird von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gesprochen und Menschenrechtsorganisationen berichten von 180 Toten und zahlreichen Festnahmen. Dieter Karg von "Amnesty International" spricht in der Tagesschau von einem "systematischen Einsatz von rechtwidriger Gewalt". Die Regierung gehe mit Schlagstöcken, Gummikugeln und Schrotkugeln gegen die Protestierenden vor und schleife Menschen an den Haaren über den Boden.
Die Solidarisierung der Arbeiter aus dem Energiesektor könnte die Proteste entscheidend voran bringen, denn die Ölindustrie mache einen Großteil der Einnahmen des Landes aus und sei deshalb laut dem Politikwissenschaftler Ali Fathollah Nejad für die Regierung nicht unerheblich. Nejad spricht von einem "revolutionären Prozess im Iran" bei dem es schon zu Beginn um weit mehr als das Kopftuch ginge. Der Mord sei der Auslöser gewesen, aber die Proteste seien inzwischen Ausdruck des gesellschaftlichen Wunschs nach einem Regimewechsel.
Die Bevölkerung glaube nicht mehr daran, dass das System reformierbar ist, so der Politikwissenschaftler im Video: "Wir sehen eine eklatante Kluft zwischen einer überwiegend jungen Bevölkerung und einer Herrscherkaste von alten Männern. Und diese beiden Seiten haben kaum gemeinsame Nenner - sei es politisch, wirtschaftlich oder auch soziokultureller Natur."
Basar in Teheran schließt aus Protest
Der Nahost-Experten Daniel Gerlach, Mitgründer der Candid Foundation, einer Denkfabrik zur Förderung interkultureller Beziehungen mit den Gesellschaften in Nahost und Nordafrika, sagte im Gespräch mit dem epd, dass bei den Protesten die Studierenden ebenso eine Rolle spielen, wie traditionelle Gesellschaftsstrukturen, etwa der Basar. "Die Händler in Teheran und anderen Städten sind eigentlich eine konservative Gruppe, haben den Basar aber zwischenzeitlich geschlossen. Das ist sicher ein Alarmsignal für das Regime", sagte Gerlach.
Des Weiteren ergänzt der 45-Jährige, der auch Herausgeber des Orient-Fachmagazins "zenith" ist, dass auch Religionsgelehrte aus dem schiitischen Establishment sich mit den Forderungen der Protestbewegung solidarisieren. Sie wollen aber anders als die meisten Demonstranten nur Reformen im System.
Hackerangriff auf das Staatsfernsehen
Am vergangenen Samstagabend schaffte es die Gruppe "Gerechtigkeit Alis" die Nachrichten im Staatsfernsehen zur besten Sendezeit für einige Sekunden zu hacken. Sie blendete ein Bild ein, worauf unter anderem das geistliche Oberhaupt, Ayatollah Ali Chamenei, zu sehen war, der in Flammen stand und über dessen Kopf sich eine Zielscheibe bewegte. Darunter waren Fotos von Mahsa Amini und drei weiteren Frauen zu sehen, die dem Regime zum Opfer fielen. Die Aussagen "Das Blut unserer Jugend tropft von deinen Händen" war darunter zu lesen, wie die Süddeutsche Zeitung am Dienstag berichtete. Ayatollah Ali Chamenei ist Oberbefehlshaber der iranischen Streitkräfte. Der 83-jährige leidet schon seit einigen Jahren an Prostatakrebs. Sein Tod könnte einiges verändern.
Unter einigen Klerikern gebe es schon lange die Überlegung , dass man den Rang des Obersten Rechtsgelehrten, der über alles wacht und jede politische Entscheidung kassieren kann, abschaffe oder durch ein Gremium ersetze, wenn Chamenei abdankt oder stirbt, beschreibt Gerlach im epd-Interview. Dabei könne ein Modell sein, den Iran vorübergehend in eine konstitutionelle Theokratie umzuwandeln, in dem der Oberste Rechtsgelehrte noch eine repräsentative Rolle habe, aber keine exekutive Macht. Der schiitische Klerus im Nachbarland Irak wäre auch ein Modell: Er hat dort gesellschaftlichen Einfluss, aber kein Regierungsamt. Auch könne die verhasste Sittenpolizei abgeschafft oder zumindest stark in ihren Kompetenzen beschnitten werden.
Die permanente Politisierung der Religion und ihr totalitärer Anspruch habe dazu geführt, dass selbst Menschen, denen religiöse Werte und Spiritualität wichtig sind, religiöse Vorschriften nicht mehr akzeptieren würden, so der Nahost-Experte. Die Moscheen und Gebetshäuser seinen im Iran vielerorts leer. Die Mehrheit wolle keine islamische Regierung, deshalb sehe man in den Städten auch nur noch selten schiitische Geistliche: " Nicht, weil es sie nicht mehr gibt, sondern weil sie nicht mehr mit Turban und Ornat auf die Straße gehen - aus Angst vor dem Zorn der eigenen Bevölkerung."