Im Vergleich zu anderen Reihen, die möglicherweise glamouröser besetzt oder spektakulärer erzählt sind, bietet "Unter anderen Umständen" solides Handwerk - aber das seit 16 Jahren auf hohem Niveau. Die besondere Qualität der Inszenierungen hängt untrennbar mit Judith Kemmel zusammen. Die Schweizer Regisseurin, die hierzulande nur fürs ZDF dreht und sich bis auf wenige Ausflüge ("Marie Brand", "Solo für Weiss") auf die Krimis mit Natalia Wörner konzentriert, pflegt einen unaufgeregten Stil, verleiht ihren Filmen aber stets eine große Dichte.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Basis der ausnahmslos sehenswerten Episoden ist eine offenbar sehr sorgfältige Drehbucharbeit. Während andere Neunzigminüter schon mal wie überlange Serienfolgen wirken, ist auch "Lügen und Geheimnisse" (eine Wiederholung aus dem Jahr 2020) ausgesprochen handlungsreich.
Der Auftakt entspricht dem üblichen Krimimuster: In einem Moor nahe Flensburg wird die nackte Leiche einer jungen Frau gefunden. Ein tätowierter pinkfarbener Flamingo bringt das Team von Jana Winter schließlich auf die richtige Spur: Es handelt sich um die 19jährige Nele Wagner (Laetitia Adrian). Ihre Eltern (Roeland Wiesnekker, Birge Schade) wähnen die Tochter auf einer gemeinsamen Fahrradtochter mit ihrer besten Freundin Jennifer (Bianca Nawrath) durch Skandinavien. Sie haben die beiden Mädchen zum Zug nach Kopenhagen gebracht, aber dort ist Nele nie angekommen.
Schockiert versucht Jennifers Vater, Werner Petersen (Stephan Kampwirth), seine Tochter zu erreichen. Nachdem das Mädchen wohlbehalten zurückgekehrt ist, müssen Neles Eltern einen weiteren Schock verkraften, denn die Tätowierung ist bei Weitem nicht das einzige Geheimnis der jungen Frau gewesen: Sie hatte nie vor, zusammen mit Jennifer nach Schweden zu radeln, sondern wollte sich die Brüste operieren lassen. Den teuren Eingriff konnte sie sich problemlos leisten: Unter dem Namen "Pink Flamingo" gehörte Nele zu den Stars einer Internet-Plattform, auf der Frauen per Sexvideo spezielle Kundenwünsche erfüllen.
Entsprechend unüberschaubar ist zunächst der Kreis der Verdächtigen, doch die Ermittlungen führen schließlich zu einem Mann, der sich allem Anschein nicht länger damit begnügen wollte, dass er nur gucken, aber nicht anfassen durfte.
Neben der gut erzählten Krimistory zeichnet sich das Drehbuch von Johannes Rotter und Natalie Tielcke nicht zuletzt durch die kriminalistische Ebene aus.
Das bezieht sich weniger auf die detektivischen Leistungen des Teams, sondern vor allem auf Zusammenarbeit und Kompetenzgerangel: Da die Leiche auf dänischem Gebiet gefunden worden ist, liegt der Fall in der Zuständigkeit der dänischen Behörden; streng genommen müsste Winter jeden Schritt mit ihrer dänischen Kollegin (Mille Maria Dalsgaard) absprechen. Außerdem haben Rotter und Tielcke dafür gesorgt, dass niemand bloß als Stichwortgeber fungiert, selbst wenn Wörner unumstritten im Zentrum steht.
In der zuvor ausgestrahlten Episode ("Über den Tod hinaus", 2020) war Matthias Hamm (Ralph Herforth) persönlich in den Fall involviert, diesmal trifft es Arne Brauner, der bekennen muss, dass er "Pink Flamingo" besser kennt, als ihm nun lieb ist. Erneut zeigt sich, wie klug die Entscheidung war, Martin Brambach weiterhin mitwirken zu lassen, obwohl er seit 2016 im "Tatort" aus Dresden als Kommissariatsleiter eine ganz ähnliche Figur verkörpert.
Nach dem Umzug des Teams von Schleswig nach Flensburg und Winters Beförderung ist der Rollentausch für den früheren Vorgesetzten nicht immer einfach. In diesem Fall kommt hinzu, dass er Neles Tätowierung zwar sofort erkannt hat, aber erst dann mit der Wahrheit rausrückt, als ihm klar wird, dass sein Name auf der Kreditkartenrechnung der Plattform auftauchen wird. Gut integriert ist auch Lisa Werlinder als eingeheiratete Dänin Alwa Sörensen – sie ist die Schwiegertochter des Staatsanwalts (Hansjürgen Hürrig) –, die als Dolmetscherin die Schnittstelle zur dänischen Polizei bildet.
Die Musik (Sven Rossenbach, Florian Van Volxem) ist ausgezeichnet, die Bildgestaltung (Nicolay Gutscher) wie eigentlich immer bei "Unter anderen Umständen" von großer Sorgfalt. Darüber hinaus beweist nicht zuletzt die Besetzung, welchen Stellenwert die Reihe innerhalb wie außerhalb des ZDF genießt. Einige Gastrollen in dieser 17. Episode (unter anderem Hary Prinz als Besitzer der Schönheitsklinik) sind nicht sonderlich groß, aber wichtig für die Geschichte.
Das gilt natürlich vor allem für Neles Eltern: Als sie rausfinden, dass die Tochter ein besonderes Verhältnis zu einem ihrer Kunden hatte, wollen sie selbst für Gerechtigkeit sorgen. Der verwitwete Petersen muss ebenfalls verkraften, dass Jenny nicht das brave Mädchen ist, für das er sie hielt; Bianca Nawrath hatte zuvor bereits in der amüsanten Italienkomödie "Papa hat keinen Plan" (2019) als Filmtochter von Lucas Gregorowicz viel Freude gemacht. Am Ende nimmt die Geschichte nochmals eine Wende, die allerdings aufgrund der besonderen Besetzung nicht mehr ganz so unerwartet kommt wie die Enthüllungen von Neles Doppelleben.