Vor einigen Jahren trug ein "Tatort" aus Stuttgart den Titel "Der Mann, der lügt" (2016). So könnte auch dieser Krimi heißen. Niki Stein (Buch und Regie) erzählt darin die Geschichte eines ganz normalen Feiglings: Ein Stuttgarter Anwalt ist während eines nächtlichen Unwetters auf dem Heimweg. Als er wegen eines Telefonats für einen kurzen Moment nicht auf die Straße schaut, gibt es einen heftigen Aufprall.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Mann hält an, steigt aus, schaut sich um und setzt sich wieder ins Auto; ein Reh möglicherweise, vielleicht auch ein Wildschwein. Aber dann stellt er fest, dass sich etwas am Heckscheibenwischer verfangen hat, und nun kann es keinen Zweifel mehr geben: Ben Dellien (Nicholas Reinke) hat einen Menschen auf dem Gewissen.
"MacGuffin" nannte einst Alfred Hitchcock Gegenstände, die eine Filmhandlung vorantreiben. Der "MacGuffin" in "Der Mörder in mir" ist die Kappe, die am Scheibenwischer hing. Das allein ist als Idee schon ziemlich makaber, aber fortan wird Stein die Kopfbedeckung immer wieder auftauchen lassen.
Dass sich Dellien nicht um das Opfer gekümmert hat, war der erste gefallene Dominostein. Er löst eine Kettenreaktion aus, die immer absurdere, aber dennoch jederzeit realistische Züge annimmt. Je mehr sich der Anwalt abstrampelt, um die Tat zu vertuschen, desto tiefer versinkt er im Treibsand seiner Lügen. Als erstes bringt er sein Auto in eine Waschanlage. Weil er es wegen eines Termins eilig hat, vergisst er die Kappe, aber eine Angestellte kennt ihn, ihre Kinder gehen in die gleiche Klasse, außerdem wohnt sie ganz in der Nähe, also bringt sie ihm das Stück nach Feierabend vorbei.
Das wäre im Grunde nebensächlich, doch die Mütze trägt die Aufschrift "Foxy". Sie war das Markenzeichen des Toten, ihr hat er seinen Spitznamen zu verdanken. Plötzlich ist der Mann im Straßengraben nicht mehr nur ein namenloses Opfer, sondern ein Mensch mit einer Biografie: Foxy ist vor Jahren durch einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen worden und hat seither auf der Straße gelebt.
Diese Entanonymisierung ist die nächste gute Idee Steins. Weil er die Handlung aus Sicht des Täters erzählt, kommt es automatisch zu einer gewissen Form der Identifikation, zumal der offenbar glücklich verheiratete Dellien, der kurz vor einem Karrieresprung steht, keineswegs unsympathisch ist. Er hat zwei Kinder, das dritte ist unterwegs, sein Leben war perfekt; aber dann hat er einen Moment nicht aufgepasst.
Da Stein dem Opfer nicht nur einen Namen, sondern auch eine bewegende Geschichte gegeben hat – Foxy war auf dem Weg zum Grab seines Sohnes – soll der Täter natürlich nicht ungestraft davonkommen. Tatsächlich will er sich schließlich sogar stellen, was seine Frau (Christina Hecke) jedoch zu verhindern weiß; stattdessen versucht er auf immer drastischere Weise, die Spuren seiner Tatbeteiligung zu beseitigen. All’ das aber wird ihm nichts nützen, wenn die Car-Wash-Mitarbeiterin (Tatiana Nekrasov) zur Polizei geht; ein Foto, das Foxy mit seiner Mütze zeigt, ist längst durch alle Medien gegangen.
Niki Stein hat in den letzten dreißig Jahren einige erinnerungswerte "Tatort"-Beiträge geschrieben und inszeniert - anfangs für den WDR, später für den HR; allein seine Trilogie zum Einstand des Frankfurter Duos Dellwo/Sänger (Jörg Schüttauf, Andrea Sawatzki; 2002/03) war herausragend.
Sein jüngster Krimi ist inhaltlich zwar längst nicht so fulminant wie seine Stanley-Kubrick-Hommage "HAL" (2016) über ein Computerprogramm, das sich von seinem Schöpfer emanzipiert (ein "Tatort" aus Stuttgart) und optisch eher bodenständig, aber diese Umsetzung entspricht der Handlung: "Der Mörder in mir" erzählt eine im Grunde alltägliche Geschichte. Darin liegt der Reiz des Films: So etwas könnte mir auch passieren, und wie würde ich mich an Delliens Stelle verhalten?
Deshalb verurteilt Stein seinen Antihelden auch nicht. Er beobachtet ihn vielmehr mit dem Interesse eines Forschers: Das Verhalten des Anwalts erinnert an die Fabel vom Frosch, der in den Milchtopf gefallen ist und nun so lange zappelt, bis die Milch zu Butter wird.
Der Rest ist Freude an den Kleinigkeiten. Neben einer eifrigen Kommissarsanwärterin (Julia Dorothee Brunsch) und einem nur scheinbar leutseligen Strafverteidiger (Hassan Lazouane) hatte Stein an der Rolle von Rechtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) offenkundig besonderen Spaß: Der Arzt beruft sich bei seinen Mutmaßungen auf Karl Poppers Kritischen Rationalismus, liefert sich mit Sebastian Bootz (Felix Klare) amüsante Scharmützel über Thesen und Antithesen und schüttelt bei Gelegenheit das passende "Hamlet"-Zitat aus dem Ärmel ("Von so betörter Furcht ist Schuld erfüllt, dass, sich verbergend, sie sich selbst enthüllt").
Dass Stein, Autor und Regisseur großer Filme wie dem Scientology-Drama "Bis nichts mehr bleibt" (2010), mehr als bloß ein Krimi zum Zeitvertreib vorschwebte, zeigt neben dem mutigen Schluss nicht zuletzt ein Gespräch der Kommissare über den Sinn ihrer Arbeit sowie der abschließende Appell von Thorsten Lannert (Richy Müller): Wie wäre es um die Welt bestellt, wenn alle wegsähen und sagten "Geht mich nichts an"?