Das Erntedankfest steht unmittelbar bevor. Mal unwirsch gefragt: Gibt es dieses Jahr etwas zu danken?
Sabine Bullinger: Obwohl ich mit Landwirten gesprochen habe, deren Mais- Kartoffel- und Gemüsefelder sehr vertrocknet aussehen, habe ich nicht nur Verzweiflung gespürt, sondern ein Staunen darüber, dass trotz der Dürre noch etwas gewachsen ist und dass es keinen kompletten Ernteausfall gegeben hat. Sie haben von einem Wunder gesprochen. Zum Glück gibt es auch noch Landstriche, in denen es geregnet hat. Ich habe es kürzlich auf der Schwäbischen Alb mit eigenen Augen gesehen: Grüner Mais, nachwachsende Grünflächen, Äcker, auf denen die neue Saat aufgegangen ist. Es gibt Obst. Die Früchte sind klein, aber süß. Hoffentlich kaufen die Verbraucher diese Sachen trotzdem, auch wenn sie nicht so groß und makellos aussehen wie gewohnt. Eine Kollegin hat daran erinnert, dass auch dafür zu danken ist, dass inzwischen wieder Getreide aus der Ukraine herauskommt.
Der Sommer in Deutschland war besonders heiß und besonders trocken. Wie hat sich das auf die Ernte ausgewirkt? Welche Produkte sind dieses Jahr besonders betroffen?
Sabine Bullinger: Ganz extrem sind die Ernteeinbußen bei Gemüse, Salat, Kartoffeln, Rüben, Mais. Wer in einem Dürregebiet wohnt und nicht bewässern konnte, hat riesige Verluste. Die Heuernte war gut und die frühen Ackerfrüchte in der Regel auch. Das Grünland ist aber nur spärlich nachgewachsen. Vieles ist notgereift. Obst gibt es viel und der Wein ist süß.
Wie gehen die Landwirt:innen mit den Wetterextremen und Ernteausfällen um?
Sabine Bullinger: Die Menschen aus der Landwirtschaft, denen ich begegne, verfallen in der Regel nicht in Depressionen angesichts der Wetterextreme. Sie benennen den Klimawandel als eine von Menschen gemachte Klimaveränderung und sehen ihre Aufgabe und Verantwortung darin, diese Klimaveränderung zu verlangsamen.
Wie relevant ist das Erntedankfest heutzutage?
Sabine Bullinger: Für mich und für die Menschen, mit denen ich im Umfeld meiner Tätigkeit als Landesbauernpfarrerin über Erntedank gesprochen habe, ist Erntedank ein wichtiges Fest im Jahreskreis. Es ist ein Innehalten im Herbst. Die reich geschmückten Erntedankaltäre zeigen die Urprodukte: das Getreide, die Kartoffeln, das Gemüse, das Obst, die Blumen, die Eier, einfach alles, was bei uns wächst. Sie führen uns die Schöpfung vor Augen. Vielleicht könnte man sogar sagen: Die Erntedankaltäre lassen uns einmal im Jahr einen Blick ins Paradies werfen.
Erntedank erinnert daran, dass diese Fülle nicht selbstverständlich ist. Alles, was auf dem Acker angebaut wird, hat einen extrem langen Vorlauf – vom Bestellen des Saatgutes ein Jahr vorher über das Vorbereiten des Ackers, dann die Aussaat und die Pflege bis hin zur Ernte. Wenn dann an Erntedank die Früchte zu sehen sind, erinnert es an die Mühe und Arbeit, die damit verbunden sind. Es lässt Freude aufkommen, dass sich diese Mühe gelohnt hat und die anderen Faktoren wie Sonne und Regen ihren Teil dazu beigetragen haben. Wir hatten hier in Deutschland, abgesehen von den Waldbränden, nirgendwo einen kompletten Ernteausfall, auch wenn die Dürre mancherorts extreme Schäden verursacht hat.
"Die Erntedankaltäre lassen uns einen Blick ins Paradies werfen."
Das Erntedankfest steht auch für Hoffnung auf Wachstum. Wie kann man diese angesichts des Klimawandels beibehalten?
Sabine Bullinger: Eigentlich verbinde ich mit dem Wort Wachstum eher Wirtschaftswachstum. Ist im Zusammenhang mit der Landwirtschaft an eine Steigerung der Ernteerträge gedacht, an eine Vergrößerung der Betriebe, an eine effizientere Betriebsführung? Ich beobachte in meinem Umfeld den Umgang mit Land, sprich mit Bodenfläche, als besonders kritisch. Will man die Landwirtschaft erhalten, geht es nicht an, dass immer mehr gutes Ackerland in Gewerbefläche verwandelt wird und damit für immer versiegelt wird. Entlang der Autobahnen wachsen die Gewerbeflächen und entstehen Logistikzentren. Klar, Städte und Kommunen erhalten dadurch Gewerbesteuereinnahmen, Arbeitsplätze entstehen, Einwohnerzahlen bleiben stabil oder es gibt sogar Zuzug. Politische Entscheidungsträger argumentieren mit der Zukunft, wenn sie neue Gewerbeflächen ausweisen und Wohngebiete erweitern. Ich gebe zu bedenken: Was ist das für eine Zukunft, wenn wir den landwirtschaftlichen Familienbetrieben die Existenzgrundlage entziehen? Wir brauchen die Landwirtschaft zur Erhaltung unserer Kulturlandschaft, zur Sicherung der Ernährung, zur Förderung der Biodiversität. Wir brauchen ihren Beitrag für den Naturschutz und die Verlangsamung des Klimawandels.
Ich sehe hier die politischen Entscheidungsträger in der Pflicht, aber auch alle anderen, die Land verpachten, verkaufen oder aufkaufen. Damit die nachfolgenden Generationen eine Zukunft haben, müssen jetzt Entscheidungen getroffen werden, die mit der Ressource Boden verantwortlich umgehen. Ich sehe noch nicht schwarz für die Zukunft, wenn jetzt und heute Entscheidungen getroffen werden, die die Landwirtschaft fördern und den Menschen, die Tag für Tag dafür ackern, Wertschätzung entgegenbringen. Dazu gehören für mich auch Verbraucherinnen und Verbraucher und der Lebensmitteleinzelhandel, die für landwirtschaftliche Produkte fair bezahlen.