Eine Kirchenglocke ohne ihren Turm kann ihre Aufgabe nicht erfüllen. Statt die Gläubigen zum Gebet zu rufen, bleibt sie stumm. Im Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Penzberg steht seit einigen Monaten so ein schweigendes Exemplar: 170 Kilogramm Bronze, 66 Zentimeter Durchmesser, 459 Jahre alt. 70 Jahre hing sie im Turm der Martin-Luther-Kirche in der oberbayerischen Kleinstadt, etwa 50 Kilometer südlich von München. Doch davor hat sie fast 380 Jahre im Turm einer anderen Kirche geläutet. Deren Gemeinde möchte sie nun zurück. Doch sie liegt in Polen, und das macht die Sache kompliziert.
Den genauen Ort dürfe er leider nicht nennen, erklärt der Penzberger Pfarrer Julian Lademann. Überhaupt könne er gerade nichts mehr machen in der Angelegenheit, für die die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) und das Auswärtige Amt zuständig seien. Doch ein bisschen erzählen kann er trotzdem: 2017 habe sich eine polnische katholische Gemeinde beim Landeskirchenamt in München gemeldet und die Rückgabe einer Glocke gefordert, die die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg beschlagnahmt und abtransportiert hatten.
Das Landeskirchenamt leitete die Anfrage an die Penzberger Gemeinde weiter. "Mein Kirchenvorstand hat gesagt: Die bringen wir sofort heim", erinnert sich Lademann. "Dann haben wir gleich eine neue Partnergemeinde in Polen." Eine Ersatzglocke sei sofort finanziert gewesen. Am 11. Mai 2022 wird sie aufgehängt und geweiht, die "alte" Glocke wird abgenommen.
Doch nun stockt die Geschichte. Denn die Glocke gehört gar nicht der Penzberger Kirchengemeinde, weshalb diese sie auch nicht einfach nach Polen zurückbringen kann. Aber wem gehört sie dann? Und wie ist sie überhaupt aus Polen nach Penzberg gekommen?#
Befehl zum Einschmelzen
Von 1563 bis zum Zweiten Weltkrieg tut sie ihren Dienst in einer Kirche, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs auf deutschem Boden steht - in den damaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches. 1940 befiehlt die nationalsozialistische Regierung den Kirchen, ihre Glocken der Rüstungsindustrie zur Verfügung zu stellen, damit sie eingeschmolzen und zu Waffen und Munition verarbeitet werden können. So wird auch die Glocke von 1563 beschlagnahmt.
Knapp 14.000 Glocken überstehen den Krieg. Der mit Abstand größte Teil lagert bei Kriegsende auf dem "Glockenfriedhof" in Hamburg, auch die Glocke aus der einst deutschen Gemeinde östlich der Oder. 1947 wird der "Ausschuss für die Rückführung der Glocken" (ARG) gegründet, der die Glocken sortiert und nach und nach in ihre Heimatgemeinden zurückbringt. Übrig bleiben etwa 1.300 Glocken aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten.
"Ihr Schicksal war vollständig unbestimmt. Die polnische Militärmission verlangte die Herausgabe dieser Glocken. Die britische Militär-Regierung hatte dagegen die Glocken beschlagnahmt und ihre Freigabe verboten", heißt es 1952 in der "Denkschrift über den Glockenverlust im Kriege und die Heimkehr der geretteten Kirchenglocken" des ARG.
Um Lagerkosten zu sparen und "die Glocken durch geregelten Gebrauch gegen Schaden und Verlust zu sichern", erreicht der Ausschuss schließlich bei den zuständigen Behörden, die Glocken leihweise an bedürftige Kirchengemeinden in Westdeutschland geben zu dürfen. So gelangt die Glocke von 1563 nach Penzberg, wo sie am Gründonnerstag 1952 zum ersten Mal erklingt. "Irgendeine Entscheidung über die Eigentumsfrage an diesen Glocken war hiermit allerdings nicht getroffen worden", schreibt der ARG 1952.
Wem gehören die Glocken heute?
Die evangelische Kirche vertritt heute die Auffassung, die Glocken seien juristisch im Eigentum der ursprünglichen Kirchengemeinden verblieben. Als Rechtsnachfolgerin dieser untergegangenen Gemeinden sei heute die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) Eigentümerin der Glocken.
Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärt jedoch auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd), die Glocken gehörten dem Bund. Sie seien während des Krieges durch die Beschlagnahme in das Eigentum des Deutschen Reiches übergegangen, deren Rechtsnachfolgerin die Bundesrepublik Deutschland sei.
Den heutigen katholischen Kirchengemeinden in Polen gehörten die Glocken jedenfalls nicht, heißt es aus der UEK. Deshalb könne auch nicht von einer "Rückgabe" die Rede sein. Dass polnische Kirchengemeinden in den zurückliegenden Jahren vermehrt Glocken und andere liturgische Gegenstände zurückforderten, wie der Penzberger Pfarrer Lademann gehört hat, bestätigen die evangelische Kirchenunion in der EKD und das Auswärtige Amt nicht.
Statt einer "Rückgabe" könne man sich in Einzelfällen eine Schenkung vorstellen, auf ökumenischer Ebene, heißt es aus der UEK. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erklärte, die Bundesregierung stehe "Initiativen positiv gegenüber, Glocken, auch als Zeichen der Verständigung und Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn, im Einzelfall an ihren Ursprungsort zurückzuführen". Juristisch könne das in Form einer "Dauerleihe" geschehen, wenn beide Kirchengemeinden und das Innenministerium einverstanden seien.
Woanders ist das auch schon geschehen: Aus dem katholischen Bistum Münster beispielsweise ist im vergangenen Jahr eine von den Nationalsozialisten beschlagnahmte Glocke ins polnische S?awi?cice zurückgekehrt, dafür wurde ein Dauerleihvertrag vereinbart. Und die katholische Diözese Rottenburg-Stuttgart hat 2021 das Projekt "Friedensglocken für Europa" für die Rückführung von Kirchenglocken initiiert.
Pfarrer Lademann wartet nun auf weitere Anweisungen von Kirche und Politik. "Die Gemeindemitglieder fragen mich: ‚Wann geht’s denn jetzt heim für die Glocke?‘", erzählt er. Doch ob die polnische Gemeinde seit ihrer Anfrage 2017 eine Antwort bekommen hat, weiß er nicht.