epd: Herr Schäuble, inzwischen gehören weniger als 50 Prozent der Menschen in Deutschland einer der großen Kirchen an. Schmerzt Sie das?
Wolfgang Schäuble: Ich bedauere das. Aber dass wir inzwischen auch einen bedeutenden Anteil von Menschen in der Bevölkerung aus der islamischen Welt haben, darüber ist nicht zu klagen, wir haben sie ja einmal angeworben. Deshalb habe ich 2006 als Innenminister die Islamkonferenz ins Leben gerufen, um darüber ins Gespräch zu kommen. Dass inzwischen viele Menschen keiner Kirche angehören, da sollten sich die Kirchen fragen, was sie wieder besser machen können. Und zur Glaubwürdigkeitskrise in der katholischen Kirche fällt mir wenig ein, was ich dazu als Protestant vernünftigerweise sagen sollte.
Und zur evangelische Kirche?
Schäuble: Die kann sich fragen: Sind wir gut genug, das zu vermitteln, was wir wollen, nämlich die Botschaft des Glaubens? Das sollte aus meiner Sicht eine frohe Botschaft sein. Das ist besser geworden, und deshalb können wir die Debatten auch mit dem nötigen Selbstbewusstsein führen. Der Anspruch Volkskirche zu sein steht für mich außer Frage.
Lässt sich mit der Bergpredigt Politik machen?
Schäuble: Nein, die Bergpredigt ist ausdrücklich keine Anleitung für Politik. Das hindert niemanden an dem Versuch, nach der Bergpredigt zu leben. Wir müssen allerdings wissen, dass keiner unter uns ohne Sünde ist.
Sind Ihnen Predigten im evangelischen Gottesdienst zu politisch?
Schäuble: Nein. Die Kirche ist auch kein Politikersatz. Diese Welt und das Reich Gottes sind zu trennen, und deswegen haben auch Pastoren keine endgültige Gewissheit. Das sollten sie beherzigen, wenn sie zu tagesaktuellen Fragen sprechen. Ich habe mal einem Pastor einer Gemeinde, in die ich neu zugezogen bin, gesagt: "Ihre politische Meinung interessiert mich nicht. Sie sind mein Pastor, ich habe Sie mir nicht ausgesucht." Mein dringender Rat wäre, Predigten nicht mit politischen Ansprachen zu verwechseln, ansonsten müsse er damit rechnen, dass ich im Sinne des Priestertums aller Gläubigen nach vorne käme und widerspräche (lacht).
"Mein dringender Rat wäre, Predigten nicht mit politischen Ansprachen zu verwechseln."
Sie haben die vor mehr als 15 Jahren von Ihnen begründete Islamkonferenz bereits angesprochen: Hätten Sie sich rückblickend bis heute mehr erwartet?
Schäuble: Ja, ich hätte mir mehr Fortschritte erhofft. Aber soll ich jetzt meine Nachfolger kritisieren?
Und auf der Seite der Islamverbände?
Schäuble: Auch dort ist es natürlich immer schwieriger geworden, vor allem durch den Einfluss der Türkei - die zu Beginn und in den ersten Jahren der Präsidentschaft Erdogans eine andere war als heute - auf die Muslime in Deutschland und die Kontroversen zwischen den Verbänden sowie den politischen Strömungen im Islam.
Noch ein Wort zu Ihrem eigenen christlichen Glauben: Gibt es Momente, in denen auch Wolfgang Schäuble nur noch Beten bleibt?
Schäuble: Wenn Sie alt werden und merken, dass das Leben endlich ist, versuchen Sie im Glauben Halt zu finden. Aber drei Vaterunser und alles ist gut - das ist kein Patentrezept. In der Politik hat mir der Glaube immer geholfen, denn ich war überzeugt: Wir kennen nicht die letzte Antwort. Es gibt Dinge, die liegen außerhalb unserer Welt.
"In der Politik hat mir der Glaube immer geholfen, denn ich war überzeugt: Wir kennen nicht die letzte Antwort. Es gibt Dinge, die liegen außerhalb unserer Welt."
Wächst im Alter Gottvertrauen?
Schäuble: Ist das so? Die Alternativen werden weniger.
Herr Schäuble, kein Abgeordneter im Bundestag hat mehr Parlamentserfahrung als Sie. Vor fast 50 Jahren wurden Sie das erste Mal gewählt. Wie geht es der parlamentarischen Demokratie in Deutschland?
Schäuble: Zu den großen Krisen unserer Zeit gehört trotz Klimakrise und dem Krieg in der Ukraine auch die Gefährdung der Demokratie. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber: Die Wahlbeteiligung sinkt, das Vertrauen in staatliche Institutionen schwindet, Mehrheitsentscheidungen werden immer weniger akzeptiert. Das lässt sich in allen westlichen Demokratien beobachten.
Wie sollte die Politik darauf reagieren?
Schäuble: Der Wettbewerb unter den Parteien nach dem Motto "Wer bietet mehr?" schadet. Die Menschen erwarten zu Recht Führung.
"Der Wettbewerb unter den Parteien nach dem Motto "Wer bietet mehr?" schadet."
Bekommen Sie die von der aktuellen Bundesregierung?
Schäuble: Ich kritisiere die Regierung ungern, das ist nicht mehr meine Rolle. Die Parteien in der Koalition müssen sich jetzt mit Dingen befassen, die zum Teil gegen die Überzeugungen stehen, mit denen sie angetreten sind. Das ist nicht einfach.
Befürchten Sie soziale Unruhen angesichts der Energiekrise, wie es Regierungsmitglieder bereits formuliert haben?
Schäuble: Ich würde jedenfalls als verantwortlicher Politiker darüber nicht reden, schließlich gibt es selbsterfüllende Prophezeiungen. Und ich teile die Sorge auch nicht. Ich glaube, dass die große Mehrheit unserer Bevölkerung vernünftig ist. Soziale Unruhen machen Gas nicht billiger. Wir müssen den Menschen aber schon sagen: Es sind schwierige Zeiten. Und wir müssen alles tun, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, in diesem Krieg militärisch zu bestehen. Dazu gehört neben Waffenlieferungen die Sanktionspolitik, und das kann man dann auch einen Wirtschaftskrieg nennen mit all seinen Folgen.
"Soziale Unruhen machen Gas nicht billiger."
Folgen, die die Regierung ausgleichen will.
Schäuble: Es ist ökonomischer Unsinn zu glauben, der Staat könne die Auswirkungen der Inflation komplett ersetzen. Wir müssen akzeptieren, dass es auch für uns etwas weniger wird. Der Staat muss aber soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen. Wenn Energie teurer wird, dann bringt das auch individuelle Einschränkungen mit sich, die der Staat nicht alle kompensieren kann. Wir sind eine Gesellschaft von Schnäppchenjägern, das finde ich falsch.